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Das Leben in 38 Tagen

Das Leben in 38 Tagen

Titel: Das Leben in 38 Tagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Scheidecker
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angekommen wäre, das würden mir meine Füße übel nehmen, dessen war ich mir
sicher. Irgendwann wollte ich ja die Dreißig-Kilometer-Hürde nehmen, aber bitte
heute noch nicht!
    Eigentlich
war ich schon etwas verwundert, dass ich bei diesen angenehmen Feldwegen nicht
mehr Kilometer schaffte, aber vielleicht war ich ja noch in der
Eingewöhnungsphase. Den beiden Engländerinnen ging es wohl genauso. Sie hofften
auch, einmal dreißig Kilometer zu schaffen. Wir drei waren ein gutes Gespann;
die große, schlanke Madlen lief vornweg, ich mit
etwas Abstand hinterher und wieder mit etwas Abstand die kleinere, kräftige
Charlotte zum Schluss. Die Olsenbande als Pilgertrio!
    Unterwegs
trafen wir wieder das deutsche Ehepaar, das mitten in der prallen Sonne Pause
machte. Ob sie heute Abend das Problem Sonnenbrand hatten? Schließlich musste
man doch schon genug in der Sonne laufen...
    Wir
gingen so weit, bis wir zwischen den Feldern und Weinbergen endlich einen
schattigen Platz unter ein paar Bäumen gefunden hatten, und nun sollte ich von
mir erzählen. Ich versuchte in Englisch zu schildern, warum ich diesen Weg
gehen wollte und warum ich freiwillig meine Arbeit aufgegeben hatte: „Nach der
Schule hatte ich Kinderkrankenschwester gelernt und war mit sehr viel Freude in
diesem Beruf tätig gewesen, davon sechs Jahre im Krankenhaus und sechs Jahre in
einer Kinderambulanz. Danach zogen wir von Berlin in mein Elternhaus nach
Geisa, weil meine Eltern krank waren und Hilfe benötigten. Zwei Jahre später
starb meine Stiefmutter an Brustkrebs und mein Vater erkrankte an Darmkrebs,
woran er weitere drei Jahre später starb. Zu meinem Vater hatten meine
Schwester und ich immer ein besonderes Verhältnis gehabt, weil unsere Mutter
starb, als wir beide drei und vier Jahre alt waren. Unser Vater bedeutete für
uns Sicherheit, Geborgenheit und Stärke. Niemals hatten wir erlebt, dass er
Angst hatte. Bei Gewitter waren wir immer in sein Bett gekrochen und manchmal
hatten wir allein mit ihm in einer Hütte im Wald geschlafen.
    Deshalb
war es für mich besonders schlimm zu erleben, dass nach unserer Stiefmutter,
die erst 58 Jahre war, als sie starb, mein starker Vater plötzlich auch so
schwach, hilflos und sterbenskrank wurde und niemand ihm helfen konnte. Als er
starb, saß ich an seinem Bett, wofür ich heute noch dankbar bin. Ich hätte ihm
gern mehr geholfen, hatte erwartet, dass er um Sterbehilfe bitten würde, weil
er sich trotz Morphium furchtbar quälen musste, aber er sagte immer: ,Die
Soldaten im Krieg mussten auch was aushalten... und das muss doch mal besser
werden, das kann doch nicht so weitergehen!’ Er hat den Tod bis zum Schluss
nicht akzeptieren wollen und das fand ich besonders schlimm, weil er sich und
uns damit die Möglichkeit des Abschiednehmens und Loslassens nahm.
    Einige
Wochen nach dem Tod meines Vaters bekam ich erst ständige Rückenschmerzen,
später dann sogar Durchfall und wachte jede Nacht mehrmals schweißgebadet auf.
Dies ging über Wochen und Monate so, bis ich schließlich überzeugt war, auch
Darmkrebs zu haben. Ich wurde im Krankenhaus durchuntersucht, ohne dass etwas festgestellt
wurde, aber mir ging es trotzdem nicht besser. Später konsultierte ich einen
anderen Arzt, der mich mit Verdacht auf Weichteilrheuma wieder ins Krankenhaus
schickte. Noch heute frage ich mich, warum sich niemand ausreichend Zeit
genommen hat, mit mir in Ruhe über die Zusammenhänge zu reden.
    Ich
fühlte mich richtig krank, bis ich endlich zwei Jahre später eine Rheumakur
erhielt, bei der ich mal richtig verwöhnt wurde und wo ich wirklich schwer
Rheumakranke sah. Als ich die teilweise noch sehr jungen Menschen mit schweren
Deformierungen an den Gelenken und mit starken Schmerzen und Ein-
    Schränkungen kennen lernte, bekam ich einen
anderen Bezug zu meinen Beschwerden. Seit dieser Kur nehme ich mir bis heute
jeden Morgen eine halbe Stunde Zeit für meine Gymnastik, egal, wie früh meine
Arbeit beginnt.
    Allerdings
verlor ich dadurch meinen Job in einer Allgemeinarztpraxis, weil es meiner
Meinung nach mein damaliger Chef nicht ertragen konnte, dass ich mir in meiner
Verzweiflung eine andere Meinung eingeholt hatte und dieser Arzt mir auch noch
eine Kur verschrieben hatte. Ich litt furchtbar, als ich einen Tag vor
Kurantritt ohne Vorwarnung meine Kündigung erhielt. Wenn ich gerade etwas
gegessen hätte, wäre es wieder herausgekommen, so fühlte ich mich in diesem
Moment. Der Zeitpunkt der Kündigung sagte wohl alles.

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