Das Leben in 38 Tagen
Santiago laufen. Da sich aber der
Transport als sehr teuer erwies, entschied sie sich, ihr Fahrrad, an dem sie
sehr hing, doch lieber dem Roten Kreuz in St.-Jean-Pied-de-Port zur Verfügung
zu stellen.
Alle Pilger in unserem Zimmer hörten
staunend zu, mit welcher Selbstverständlichkeit und Bescheidenheit sie von
ihrer tollen Leistung erzählte. Ihr Mann war mit Mitte vierzig an einer
schweren Krankheit gestorben, danach musste sie ihre beiden Kinder allein
versorgen und bis zu ihrem 65. Geburtstag arbeiten gehen. Nun hatte sie endlich
Zeit, einmal zur Ruhe zu kommen und sich einen Traum zu erfüllen. Nicht zuletzt
wollte sie den Weg auch für ihre Kinder laufen, die beide schon seit längerem
um einen Job kämpfen mussten. Froh, in Ventosa gelandet zu sein und diese Frau
kennen gelernt zu haben, stellten wir fest, dass wir eine gute Truppe waren,
und beschlossen daraufhin, zusammen essen zu gehen. In einem kleinen,
unscheinbaren Haus am Ende des Dorfes erlebten wir dann eine große
Überraschung, nämlich eines der besten Restaurants des ganzen Camino.
Ein liebevoll mit Antiquitäten und
Pilgerandenken ausgestatteter Gastraum strahlte eine einladende Gemütlichkeit
aus und die Besitzer, eine freundliche einheimische Familie, empfingen uns sehr
herzlich. Das Pilgermenü kostete wie üblich acht Euro, schmeckte hervorragend
und wir waren etwas irritiert, dass uns der Hospitalero vorher von dieser
schönen Gaststätte abgeraten hatte. Sollte das etwa eine heimliche Konkurrenz
sein?
Selbst die Toiletten waren wunderbar auf
alte Weise hergerichtet, sauber und sehenswert. Das Schönste aber war der
Garten. Hier konnte man in Ruhe sitzen und die malerisch-sanfte Hügellandschaft
um das kleine Dorf inmitten blühender Wiesen, grüner Felder und dem dunkleren
Waldessaum im Hintergrund bewundern.
Zufällig hatten sich an diesem Abend fünf
deutsche Frauen und Anne-Marie, die hübsche dunkle Spanierin mit ihrem schönen
Lächeln, zusammengefunden. Das Essenbestellen verlief sehr lustig, da die
Anwesenden entweder nur Deutsch oder nur Spanisch konnten und jeweils drei
Auswahlessen zur Verfügung standen. Manches wurde beim Servieren dann eben
ausgetauscht oder sogar umgetauscht, wie mein Joghurt in ein Eis. Das stellte
kein Problem für die nette Bedienung dar, so dass wir uns zum Schluss sogar
noch einen guten Cognac leisteten.
Nachdem ich an diesem Tag so ein negatives
Erlebnis gehabt hatte, wurde es noch ein wunderbarer Abend in dem gastlichen
Haus, von dem wir uns kaum trennen konnten. Wer hätte gedacht, dass dieser
Freitag, mein zehnter Lauftag , noch so ein gutes Ende
finden würde?
So eng liegen Glück und Unglück manchmal
nebeneinander.
11.
Cirueña, Jutta und das Glück in einer alten Scheune
So wie ich abends mit einem guten Gefühl
eingeschlafen war, so weckte mich am Morgen ein ungutes Gefühl. Ich spürte,
dass mein linkes Auge fast zugeschwollen war, und als ich in den Spiegel sah,
blickte mich ein anderer Mensch an. Das sollte ich sein? Die linke
Gesichtshälfte war rot und blau verfärbt, das Auge kaum zu sehen und rundherum
hatte sich ein Brillenhämatom entwickelt. Es sah richtig Furcht erregend aus.
Jeder sprach mich natürlich darauf an, und ich hoffte nur, dass das Auge nicht
ganz zuschwellen würde und ich nicht doch noch zum
Arzt würde gehen müssen.
Die Kopfschmerzen waren aber auf jeden Fall
besser geworden und das Essen hatte ich auch gut vertragen, also nahm ich
weiter meine Arnicaglobuli , welche das richtige
Mittel gegen Blutergüsse und Schmerzen sein sollten, und ging den Tag langsam
an.
Ich hatte mich am Abend mit den anderen
Frauen besprochen, dass wir eventuell wieder zusammen übernachten wollten. In
Cirueña sollte es eine Österreicherin geben, die eine alte Scheune als
Pilgerherberge umgebaut hatte und deren Gastfreundschaft sehr gelobt wurde.
Dieser Ort war aber fast 27 Kilometer entfernt, so weit, wie ich bisher noch
nicht gelaufen war, und ich konnte noch nicht einschätzen, wie weit meine
Kräfte nach dem Unfall reichen würden.
Da die anderen Frauen auch lieber allein
laufen wollten, verabschiedeten wir uns zunächst einmal voneinander, um jeder
für sich zu sehen, was der Tag bringen würde.
Anne-Marie und ich waren die Letzten, die
die Herberge verließen. Wir hatten uns noch gegenseitig beim Verbinden der Füße
geholfen, aber so schlecht, wie sie lief, konnte sie es nicht mehr weit
schaffen. Obwohl sie nur Spanisch sprechen konnte, verstand ich doch, dass
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