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Das Leben in 38 Tagen

Das Leben in 38 Tagen

Titel: Das Leben in 38 Tagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Scheidecker
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spürte, dass ihr vor allem die
Steigungen nicht leicht fielen, aber stets trug sie ein herzliches Lachen im
Gesicht. Ich habe sie den ganzen Weg nicht einmal griesgrämig gesehen und immer
freuten sich die beiden, wenn sie mich sahen. Ich hatte den Eindruck, dass sie
sehr gut miteinander harmonierten, und es war immer angenehm, mit ihnen zu
reden. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich allerdings nicht gedacht, dass wir uns bis
Santiago regelmäßig treffen würden...
    Als ich gerade gehen wollte, kam eine junge
Frau angehumpelt , und ich freute mich, auch sie zu
sehen. Anne-Marie, die hübsche schwarze Spanierin, hatte ich schon in Torres
del Rio kennen gelernt. Sie war mit ihrem Bruder gestartet, konnte ihm aber
nicht folgen. Sie hatte starke Probleme mit ihren Füßen, wollte aber trotzdem
heute noch bis Nájera. Ich weiß nicht, warum, aber Anne-Marie wirkte von Anfang
an sehr anziehend auf mich. Sie hatte so ein herzliches Lachen, und obwohl sie
kein Wort Englisch konnte, verstanden wir uns auf Anhieb. Ich überredete sie
mit Händen und Füßen, doch mit mir in Ventosa zu übernachten. Schließlich hatte
ich sie überzeugt und wir gingen gemeinsam bis zu dem kleinen alten Dorf, das
uns, eingebettet zwischen Wiesen und Wäldern, schon von weitem mit seiner
Kirche auf einem Hügel einladend grüßte. Die Herberge empfing uns wieder
typisch für diese Region in einem alten Natursteinhaus mit dicken Mauern und
kleinen Fenstern, aber in der oberen Etage gab es sogar einen kleinen
schmiedeeisernen Balkon mit Blumen. Dass es eine Privatherberge war, merkte man
an den sauberen Räumen. Ich war heilfroh, hier angekommen zu sein, und legte
mich nach meinen täglichen Verrichtungen so schnell wie möglich mit einem
kalten Waschlappen auf der Stirn in mein Bett. Anne-Marie brachte mir gleich
noch Jodlösung und Verbandszeug, obwohl ich das selbst dabei hatte. Sie war
eben ein sehr lieber Mensch, was ich mir gleich gedacht hatte. Wie sich herausstellte,
hatte sie genau wie ich im Oktober ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert, was
ich ihr niemals zugetraut hätte. Ob es das war, was uns verband? Von Beruf war
sie jedenfalls nicht Krankenschwester, wie ich vermutet hätte, sondern Köchin.
    Nach diesem aufregenden Tag schlief ich
gleich ein, und als ich nach zwei Stunden erwachte, waren alle anderen neun
Betten belegt und ich fühlte mich etwas besser. Erfreut stellte ich fest, dass
Simone das Bett neben mir belegt hatte. Die Schwägerin des deutschen Problemehepaars,
eine Frau namens Uta, lag mir gegenüber und erzählte, dass sie sich von den
anderen beiden für eine Weile getrennt hatte. Sie hatte die Erfahrung gemacht,
dass sie alleine besser laufen konnte, ohne ewige Diskussionen und
Meinungsverschiedenheiten und ohne sich ständig anpassen zu müssen. Überhaupt
gab es zu meiner Überraschung in unserem Zimmer heute eine Ansammlung von
Einzelkämpferinnen.
    Jacqueline aus Frankreich sprach leider nur
Französisch mit einem schönen singenden Akzent, aber war mit Mimik und Gestik
sehr um mich besorgt. Lia (von Cornelia!), eine sehr große, sehr schlanke
ehemalige deutsche Handballerin Mitte dreißig und mit Fußproblemen, Irene etwa
im gleichen Alter, die ich bisher öfter mit den Jugendlichen gesehen hatte, die
aber nun auch lieber allein laufen wollte, und Edith, eine bemerkenswerte Frau
von 66 Jahren, von der überall auf dem Pilgerweg gesprochen wurde. Ich freute
mich sehr, die kleine drahtige Frau mit sonnengebräuntem Gesicht, kurzen
hellblonden Haaren und leuchtenden blauen Augen endlich persönlich kennen zu
lernen, und sie erzählte bereitwillig ihre sehr interessante Geschichte.
    Edith kam aus der Nähe von Stuttgart und
war am 18. März von dort ganz allein mit ihrem Fahrrad und ihrem Gepäck
aufgebrochen. Dabei fuhr sie auf abenteuerliche Weise 1800 Kilometer durch ganz
Frankreich bis St.-Jean-Pied-de-Port in den Nordpyrenäen, von wo aus ich
gestartet war. Zwischendurch blieb sie mal im Schnee stecken, weil noch einmal
ein Wintereinbruch kam; da suchte sie bei einem Pfarrer in seinem Pfarrhaus
Zuflucht oder sie schlief ganz allein in kalten Herbergen und einmal sogar in
einer Scheune, weil dort um diese Jahreszeit die Pilgerunterkünfte noch nicht
geöffnet waren. Nach vier Wochen ohne Französischkenntnisse und mit nur
minimalen Englischkenntnissen landete sie mit einigen Hindernissen in
St.-Jean-Pied-de-Port. Dort wollte sie ihr Fahrrad mit der Bahn nach Hause
zurückschicken und weitere 800 Kilometer bis

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