Das Leben in 38 Tagen
plötzlich in einem großen Hof
ein paar Pilger unter einem schattigen Baum sitzen.
Ich freute mich wie ein Schneekönig, nach
dem anstrengenden Tag die Herberge gefunden zu haben. Irene, Edith und Simone
begrüßten mich mit lautern Hallo.
„Ist hier noch ein Bett frei?“, fragte ich
vorsichtig.
„Ja, du hast Glück!“, sagte eine
freundliche, etwa vierzig- bis fünfzigjährige Frau in einem bunten Rock, die
mich mit ihrer Kleidung und ihren langen glatten Haaren an die Blumenkinder der Woodstockgeneration erinnerte und gerade aus einer
alten Scheune trat. Sie reichte mir die Hand und sprach:
„Ich bin Jutta, herzlich willkommen in
meiner Herberge, und wer bist du?“
„Conny aus Deutschland, ich freue mich,
dass ich dich gefunden habe!“, antwortete ich und fragte sie nach den
widersprüchlichen Wegweisern.
„Ja, da gibt es Probleme mit bestimmten
Leuten, die nicht wollen, dass hier Privatherbergen und noch dazu von
Ausländern eingerichtet werden. Sie versuchen mir immer wieder Steine in den
Weg zu legen. Das ist sehr schade, aber zum Glück gibt es hier auch andere
Menschen, die mich unterstützen, sonst hätte ich das nicht machen können! Aber
was ist mit deinem Gesicht passiert, bist du gestürzt?“
Ich erzählte ihr von meinem Missgeschick
und sie nahm mich daraufhin gleich mit in die Scheune, zeigte mir mein Bett und
hieß mich an den großen Esstisch setzen. Während sie mir Wasser und Wein
hinstellte, sah ich mich um. Die Herberge bestand aus einem einzigen Raum mit
vier Doppelstockbetten auf der einen Seite und einer Küchenzeile auf der
anderen Seite, einer Duschkabine und einer Toilettenkabine in der Ecke sowie
dem Esstisch und mehreren Stühlen in der Mitte. An den großen Holzbalken, die
den Raum mehrfach als Stützen durchbrachen, und der eingebauten oberen Etage,
die mit der unteren durch eine offene Treppe verbunden war, konnte man noch gut die ehemalige Scheune erkennen. Jutta
erzählte, dass sie das alles fast allein renoviert und sich damit einen Traum
erfüllt habe. Die Scheune hätte 100.000 Euro gekostet, was ich fast nicht
glauben konnte, und sie hatte dafür einen großen Kredit aufnehmen müssen. Nun
lebte sie hier in dem kleinen Dorf ohne Auto nur von Spenden und musste dabei alles
mit dem Fahrrad besorgen, aber es war ihr Wunsch, so unabhängig zu sein und
sich für die Pilger zu engagieren.
Jutta strahlte Gelassenheit, Wärme und
Intelligenz aus, so dass ich mich gleich geborgen fühlte. Sie spürte, dass mich
mein Sturz noch sehr beschäftigte, und während sie beruhigend mit mir redete,
stellte sie sich auf einmal hinter mich und begann dabei meine Stirn, meine
Schläfen und meinen Nacken leicht zu massieren. Ich schloss die Augen, genoss
ihre Fürsorge und hörte sie mit ihrer klaren und festen Stimme sagen:
„Du musst wissen, der Jakobsweg ist etwas
ganz Besonderes. Er ist wie das Leben in dreißig oder vierzig Tagen. Ich selbst
bin ihn schon dreimal gelaufen und weiß, wovon ich rede: Wenn etwas passieren
soll, passiert es in der ersten Hälfte des Weges. Dies kann man mit einer
inneren Reinigung vergleichen, die bis Burgos einsetzt. Du brauchst nun keine
Angst mehr zu haben. Es wird dir nichts Böses mehr zustoßen. Wenn du den Weg
gehen sollst, wirst du es auch schaffen, wenn nicht, wird dir immer wieder
etwas passieren und es wird dich hindern, anzukommen. Dann ist die Zeit noch
nicht reif dafür. Es wird Höhen und Tiefen geben, Glück und Schmerzen, Freude
und Traurigkeit, genau wie im Leben. Du wirst Vertrauen haben müssen und Mut,
immer wieder neu. Aber nach der Anstrengung und der täglichen Überwindung der
eigenen Trägheit wirst du nicht nur eine Lektion gelernt haben. Gehe jeden Tag
mit offenen Augen und offenem Herzen und du wärst deine Lektionen erkennen. Und
wenn du in Santiago angekommen bist, fängt dein eigener Jakobsweg erst richtig
an! Denn dein Leben ist wie der Jakobsweg.“
Ein angenehmes und zugleich feierliches
Gefühl durchströmte mich. Ich empfand Juttas Worte und ihre leichte Massage wie
einen persönlichen Pilgersegen. Wie recht sie doch hatte!
Den Sturz hatte ich wie einen plötzlichen
emotionalen Tiefschlag empfunden, den ich erlebt hatte und der mich k. o.
setzen wollte. Aber ich war wieder aufgestanden und weitergelaufen und das
wollte ich auch im normalen Leben tun. Hinfallen kann jeder, man muss nur
wieder aufstehen! Narben gehören zum Leben wie Lachfalten, sie dürfen nur das
Lachen nicht verhindern. War das schon die
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