Das Leben in 38 Tagen
ihre
Familie sich Sorgen um sie machte und sie sich in Nájera treffen wollten. Quiza fin del camino — vielleicht
Ende des Weges?
Wir beide umarmten uns so herzlich wie alte
Freunde, wohl wissend, dass wir uns nicht wiedersehen würden. Wir hatten uns kennen
gelernt, waren ein Stück Weg zusammen gegangen und nun war es Zeit, sich zu
trennen, und jeder musste wieder seinen eigenen Weg gehen. Adiós, Anne-Marie
und all die anderen, buen camino!
Und weiter führten die gelben Pfeile, immer
weiter Richtung Westen. Nur begleitet von meinem langen Schatten und lieblichem
Vogelgezwitscher ging ich leicht bergauf durch einen herrlichen Morgen. Welcher
Unterschied zu dem gestrigen Morgen durch die Stadt Logroño mit den vielen
Menschen, dem Verkehr und dem Lärm!
Ich genoss das Alleinsein, den Blick zurück
auf das weite Tal, die grünen Wiesen mit immer mehr blühenden Büschen
dazwischen und die dunklen Berge im Hintergrund. Wie war das doch alles schön
und welches Glück hatte ich, hier allein laufen zu können! Mir fiel das Lied „Boulevard of broken dreams” von Green Day, einer amerikanischen Rockgruppe , ein : „I walk a lonely
road, the only one that I have ever known. Don’t know where it goes. But it’s home to me and I walk alone!” Das war mein Lied, mein Weg und mein Leben!
Der Pfad wurde nun immer schmaler, und
während er in ein Waldstück hinein führte, saßen plötzlich rechts und links des
Weges Hunderte oder sogar Tausende von Steinmännchen! Dies war ein bewegender
Anblick. Ab und zu hatte ich schon Steinmännchen gesehen, wenn gerade viele
runde Steine auf den Wegen lagen. Meistens waren sie auf den Wegsteinen
aufgebaut und bedeckten ein paar Feldblumen, einen Wunschzettel oder eine
Mitteilung von einem Pilger zum anderen. Aber so eine Ansammlung wie hier hatte
ich noch nicht gesehen. Es gab die unterschiedlichsten Bauwerke, große,
mittlere und winzige, manche mit einem angemalten Gesicht und Armen aus Holz
oder passenden Steinen. Es waren richtige kleine Kunstwerke darunter und das
Ganze wirkte wie eine riesengroße Steinmännchenfamilie ,
die die vorbeikommenden Pilger begrüßte und bewachte. Manchmal sah man auch
Pfeile, die aus Steinen mitten auf dem Weg ausgelegt waren, und dann wusste man
einfach, dass genau hier der richtige Weg war. Später wollte ich auch so ein
Steinmännchen als Erinnerung auf dem Weg lassen, aber nun musste ich erst
einmal weiter, hoffentlich bis Cirueña!
Der Weg heute war wirklich besonders schön
und sollte mich wohl für gestern entschädigen; nachdem ich den Wald
durchschritten hatte, sah ich auf ein weites grünes Tal mit schneebedeckten
Bergen im Hintergrund. Auf angenehmen Feldwegen ging es immer leicht abwärts an
einem Steinbruch vorbei, durch Weinfelder, über kleine Bäche, bis hinab zum
Fluss Najerilla , der die historische Altstadt von
Nájera, einer kleinen Stadt von etwa 7000 Einwohnern, durchfließt. Sie war im
frühen Mittelalter Residenzstadt der Könige von Navarra gewesen und beherbergt
in dem berühmten Kloster Santa Maria la Real noch einige sehenswerte
Königsgräber. Eigentlich hätte ich an diesem Ort mehr Zeit verbringen müssen,
aber ich wollte mir ja noch eine Sonnenbrille kaufen, um meine Augen vor der
Sonne und mich vor neugierigen Blicken zu schützen. Und ich musste noch etwa
fünfzehn Kilometer laufen, wenn ich heute in Cirueña schlafen wollte...
Also entschied ich mich für Weiterlaufen
und erreichte nach sechs Kilometern meistens bergauf Azofra, ein kleines
Bergdorf. Es war gerade Samstagmittag und ich legte mich auf eine Bank im
Schatten neben der Kirche. Ein alter Mann saß auf der anderen Bank und lächelte
mir freundlich zu. Da hörte ich auf einmal Musik und Gesang aus der Kirche. War
etwa um diese Zeit Gottesdienst? Da die Kirchen in den Dörfern meistens
geschlossen waren, ging ich nachsehen und fand mich plötzlich mitten in einer
Messe wieder. Die Kirche war gut gefüllt mit Menschen aller Altersgruppen in
festlicher Kleidung. Ich setzte mich dazu und genoss die feierliche Atmosphäre
und die angenehme Kühle. Dabei fühlte ich wieder Dankbarkeit und Freude in mir
aufsteigen, Dankbarkeit, dass mein Unfall so glimpflich abgegangen war, dass
ich wieder eine Sonnenbrille hatte und dass ich weiterlaufen und all das Schöne
erleben durfte.
Nach der Messe gingen die meisten Leute zu
meinem Erstaunen in ein Restaurant; vor allem die Männer tranken erst mal ein
Glas Wein, aber auch ganze Familien mit Kindern und Oma
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