Das Leben in 38 Tagen
eine bekannte Stimme in einem rollenden Englisch
ansprach: „ Hello , how are you ?“ Da saß auf einmal der
graubärtige Cowboyhut aus der Bar von Tardajos neben
der Tür und strahlte mich mit seinen schönen graublauen Meeraugen an.
„Oh, thanks , I’m fine ”, antwortete ich
überrascht, „ I’m Chris, and what’s your name ?”, ließ er nicht locker.
„My name is Conny , I’m from Germany and where
are you from? ”, fragte ich nun, neugierig geworden . Chris erzählte, dass er Australier sei und
in Sydney leben würde, was ich sehr interessant fand. Aber mittlerweile war es
schon wieder später Vormittag und ich war heute noch nicht weit gekommen.
Dieser Mann war sicher interessant und hatte ein überaus gewinnendes Lächeln,
aber mich zog es weiter, und zwar erst einmal allein. Vielleicht konnten wir
ein anderes Mal sprechen. „See you later , Conny!“ „I hope so, Chris,
bye!“
Wie leicht es doch hier war, mit anderen
Menschen ins Gespräch zu kommen! Es schien mir fast einfacher zu sein, einen
Pilgerpartner zu finden, als allein laufen zu können!
Ich verließ das Dorf Boadilla del Camino leicht beschwingt, bis ich mich auf einmal zwischen einem alten
Kanal und einer langen Pappel- und Birkenallee wiederfand, deren Wipfel der
plötzlich aufkommende Wind alle in eine Richtung drehte. Wie das Cover auf der
„ Wish you were here “-LP von Pink Floyd,
ging es mir durch den Kopf! Nur das rote, fliegende Seidentuch zwischen den Bäumen
fehlte!
Auf einmal wusste ich nicht, was mit mir
passierte. Ebenso plötzlich wie der stärker werdende
Wind die große graue Regenwolke genau über mir zum Regnen brachte, genau so schnell änderte sich nun meine Stimmung. Eine
tiefe Traurigkeit erfasste mich und die eiskalte, wohlbekannte Hand des Schmerzes
begann, mein Herz zu umklammern. Die Tropfen, die mir nun übers Gesicht liefen,
waren auf einmal warm und schmeckten salzig und mir fiel die Liedzeile der
Gruppe „Echt“ ein: „Sag mal, weinst du etwa, oder ist es der Regen, der von
deinen Haaren tropft?“ Wie treffend, aber ich konnte mich nicht wehren. Ich war
froh, gerade jetzt allein zu sein und meinen Gefühlen freien Lauf lassen zu
können. War es vielleicht Fügung, dass ich hier und heute allein lief?
Der Weg am Kanal entlang erinnerte mich in
seiner einfachen, ruhigen Schönheit an die flache Weite der kanaldurchzogenen
ostfriesischen Landschaft, hinter deren Horizont wie ein Versprechen immer das
Meer wartet. Berge und Meer habe ich schon immer gemocht.
Das Ufer war mit Schilf und gelben
Schwertlilien bewachsen. Auf den grünen Wiesen zu beiden Seiten des Kanals sah
ich ein Storchenpaar und in einiger Entfernung einen Schäfer mit seiner
Schafherde. Warum wurde ich gerade hier so traurig? Jeder beginnt einmal, auf
dem Jakobsweg zu weinen, und heute hatte es mich erfasst. Nun ließen sich die
Bilder in meinem Kopf nicht mehr verdrängen. Schmerzhaft erinnerte ich mich an
etwas, was lange zurücklag und das ich schon ebenso lange vergessen wollte.
Ich sah mich am Fenster stehen und die
Radfahrer beobachten, die an diesem regnerischen, grauen Morgen über die große
Brücke zur Arbeit fuhren, so wie sie es an jedem Werktag taten. Aber ich
spürte, dass es das letzte Mal sein würde, dass ich dieses Bild sah. Die Regentropfen
liefen im gleichen Rhythmus die Fensterscheibe hinunter wie die Tränen über
mein Gesicht. Ich wusste, dass ich Abschied für immer nehmen musste; von der
Stadt, der Umgebung, den Menschen, von allem, was ich dort liebte. Mein Herz
kämpfte ebenso wahnsinnig wie erfolglos gegen meinen Verstand. Manchmal ist es
leichter, etwas Endgültiges zu ertragen, als etwas Mögliches, das unmöglich
ist! Ich konnte nicht bleiben; ich durfte es nicht...
Und schon wieder ging mir eine neue
Textzeile durch den Kopf, diesmal von Herbert Grönemever :
„Weiß man, wie oft ein Herz brechen kann, wie viel Sinne hat der Wahn, lohnen
sich Gefühle? Wie viele Tränen passen in einen Kanal, leben wir noch mal, was
heilt die Zeit?“
Herbert Grönemeyer hatte selbst den
tiefsten Schmerz durchlitten; vielleicht kann man nur dann solche wunderschönen
tiefsinnigen Texte schreiben. Ich wünschte mir sehr, nicht immer so emotional
zu sein, meinen Gefühlen nicht so viel Raum zu geben, aber sollte ich gegen
mich selbst kämpfen? Dieser Kanal stellte auf einmal ein Sinnbild für meinen
Seelenzustand dar. Das Wasser floss zwar ruhig, aber unaufhörlich und seine
Wellen bestanden aus Tränen. Kann
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