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Das Leben in 38 Tagen

Das Leben in 38 Tagen

Titel: Das Leben in 38 Tagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Scheidecker
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man gegen ein solches Wasser kämpfen? Oder
ist es die bittersüße Sinfonie, von der man nicht loskommt? Muss man das
Bittere schmecken, weil man das Süße nicht lassen kann...
    Früher fand ich es immer schlimm, wenn mein
Vater weinte. Nie wollte ich so weich werden wie er, und doch erinnert mich
vieles in meinem Verhalten an ihn. Ich glaube, dass jeder Mensch nur ein
gewisses Maß an Leid und Schmerz, an Ablehnung und Zurückweisung ertragen kann.
Wird dieses Maß überschritten, kommt er nicht mehr von dieser hohen
Gefühlsschwelle herunter. Er wird immer angreifbarer und verletzlicher, hat
Angst, zu vertrauen. Den Schmerz, den eine offene Seele einmal angenommen hat,
kann sie nie wieder abbauen. Ähnlich wie aufgenommene Röntgenstrahlen, die
immer im Körper verbleiben, summiert und potenziert sich jeder neue Schmerz
oder man versteinert oder man schafft es, zu verdrängen…
    Ich weiß nicht, was möglich ist, aber ich
hatte eigentlich immer nur Angst vor körperlichen Schmerzen. Nie hätte ich es
für möglich gehalten, dass auch der seelische Schmerz einen wie ein Tier
angreifen kann, einen zu Boden werfen kann, auf einem herumtrampeln kann, bis
aus dem sinnlosen und hilflosen Schreien nur noch ein Wimmern geworden ist...
    „Was mich nicht umbringt, macht mich nur
noch stärker!“, kam es aus meinem wohl niemals stillstehenden
Gedankenkarussell. Stimmt das wirklich und für jeden? Vielleicht braucht man ja
auch nur unendliche Geduld und Vertrauen? Bis jetzt hatte ich jedenfalls das
Gefühl, dass mich die erlebten seelischen Schmerzen und Enttäuschungen immer
schwächer werden ließen, noch verletzlicher, noch weicher, so wie ich eigentlich
niemals sein wollte...
    Aber deshalb hatte ich ja diesen Camino in
Angriff genommen; ich musste einen Weg finden, um mit mir selbst ins Reine zu
kommen. Ich wollte laufen, laufen, laufen, aber nicht, um vor mir selbst zu
fliehen, sondern um etwas gegen mein inneres Chaos zu tun, etwas, was ich
verstand — und vom Laufen verstand ich etwas, genau wie mein Vater. Vielleicht
lief ich den Weg ja auch ein bisschen für ihn...
    Dieses Bild von dem Regenmorgen in der
fremden Stadt war nicht der Hauptgrund für meinen tiefen Schmerz; sondern es
war nur die Spitze des Eisbergs aller bisher durchlebten Kränkungen,
Enttäuschungen und Schmerzen. Jeder neue Schmerz trifft auf unzählige alte,
unverarbeitete Enttäuschungen und kann dadurch zu einem scheinbar
unüberwindlichen Hindernis werden. Oder ist das alles vielleicht wirklich nur
ein Knoten, den man lösen muss und der seine tiefste Ursache in der Kindheit
hat, zum Beispiel im Tod meiner Mutter, als ich vier Jahre alt war?
    In meinem Kopf stapelten sich die Fragen
und in meinem Herzen stritten sich die unterschiedlichsten Gefühle. Würde der
Weg lang genug sein, um wenigstens zu erreichen, dass Kopf und Herz wieder eine
Einheit bilden würden?
    Bimmelnde Glöckchen von der Schafherde am
anderen Ufer rissen mich aus meinen Gedanken. Ich lief noch immer am Kanal
entlang und auf einmal konnte ich spüren, welcher Frieden von diesem ruhig
fließenden hohen Wasser und den weiten grünen Wiesen in ihrer scheinbaren
Unendlichkeit ausging. Den leichten Wind empfand ich plötzlich wie ein Streicheln.
Er hatte die dicke Regenwolke fortgeweht und trocknete nun die Tropfen in
meinem Gesicht und an meiner Kleidung. Zwei Radfahrer in ihren bunten
Regenjacken überholten mich und wir tauschten freundlich unser „Buen camino!“
aus. Nach Regen folgt Sonne! Solch eine einfache Weisheit musste mir erst die
Natur zeigen, um sie zu verstehen!
    „Zeige mir deine Wege, o Herr, und lehre
mich deine Pfade!“ Dieses religiöse Lied, das wir auf unserer Busfahrt nach Rom
immer gesungen hatten, fiel mir nun plötzlich ein und ich sang es leise vor
mich hin. Alles hat wohl einen Sinn, auch wenn man vieles erst im Nachhinein
oder auch gar nicht verstehen kann! — Mit neuem Mut gelangte ich bald an eine
alte Schleuse. In meinem Reiseführer hatte ich gelesen, dass dieser Kanal, den
man auch den Kastilischen Kanal nennt, schon im achtzehnten Jahrhundert als
Meisterwerk der Baukunst galt. Damals war er als Transportweg geplant und heute
dient er der Bewässerung eines Teils der Meseta, der Tierra de Campos. Ich ließ
mir Zeit und blickte lange von der schmalen Brücke in das nun sprudelnde und
schäumende Wasser auf der einen Seite hinunter. Wieder einmal faszinierten mich
die verschiedenen, unaufhörlichen Bewegungen des Wassers, aber auch ein

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