Das Leben in 38 Tagen
wenig
die interessante Technik des alten, kleinen Staudamms.
Bevor ich weiterging, schaute ich ein
letztes Mal zurück zur anderen Seite; der „ Wish you were here “
— Allee neben dem ruhigen Fließen des Kanals inmitten einer Landschaft, die
sich wohl für immer in mein Herz eingebrannt hatte. Aber die Traurigkeit trug
nun einen Mantel der Hoffnung... Und passend zu diesem tröstenden Gedanken
dachte ich auf einmal an eine Geschichte, die während meiner Kur vor drei
Jahren unter den Kurpatienten kursierte und die mich sehr berührt hat. Sie soll
von einem vierzehnjährigen Mädchen geschrieben worden sein:
Das
Märchen von der traurigen Traurigkeit
Es war eine kleine Frau, die den staubigen
Feldweg entlangkam. Sie war wohl schon recht alt, doch ihr Gang war leicht und
ihr Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens. Bei der
zusammengekauerten Gestalt blieb sie stehen und sah hinunter. Sie konnte nicht
viel erkennen. Das Wesen, das da im Staub des Weges saß, schien fast körperlos.
Es erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen Konturen.
Die kleine Frau bückte sich ein wenig und
fragte: „Wer bist du?“ Zwei fast leblose Augen blickten müde auf: „Ich? Ich bin
die Traurigkeit“, flüsterte die Stimme stockend und so leise, dass sie kaum zu
hören war. „Ach, die Traurigkeit!“, rief die kleine Frau erfreut aus, als würde
sie eine alte Bekannte begrüßen.
„Du kennst mich?“, fragte die Traurigkeit
misstrauisch. „Natürlich kenne ich dich. Immer wieder einmal hast du mich ein
Stück des Weges begleitet.“ „Ja, aber argwöhnte die Traurigkeit, „warum
flüchtest du denn nicht vor mir? Hast du denn keine Angst?“
„Warum sollte ich vor dir davonlaufen,
meine Liebe? Du weißt doch selbst nur zu gut, dass du jeden Flüchtigen
einholst. Aber was ich dich fragen will: Warum siehst du so mutlos aus?“
„Ich... bin traurig“, antwortete die graue
Gestalt mit brüchiger Stimme.
Die kleine, alte Frau setzte sich zu ihr.
„Traurig bist du also“, sagte sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf,
„erzähl mir doch, was dich so bedrückt.“
Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr
diesmal wirklich jemand zuhören wollen? Wie oft hatte sie sich das schon
gewünscht! „Ach, weißt du“, begann sie zögernd und äußerst verwundert, „es ist
so, dass mich einfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter die
Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn
ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden
mich wie die Pest.“
Die Traurigkeit schluckte schwer. „Sie
haben Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen. Sie sagen:
Papperlapapp, das Leben ist heiter. Und ihr falsches Lachen führt zu
Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen: Gelobt sei, was hart macht. Und dann
bekommen sie Herzschmerzen. Sie sagen: Man muss sich nur zusammenreißen. Und
sie spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken. Sie sagen: Nur
Schwächlinge weinen. Und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder
sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen.“
„Oh ja“, bestätigte die alte Frau, „solche
Menschen sind mir schon oft begegnet.“
Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in
sich zusammen. „Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz
nah bei ihnen bin, können sie sich selbst begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest
zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist, hat eine besonders dünne
Haut. Manches Leid bricht wieder auf, wie eine schlecht verheilte Wunde, und
das tut sehr weh. Aber nur wer die Trauer zulässt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich
heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht, dass ich ihnen dabei helfe.
Stattdessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narben. Oder sie
legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu.“
Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war
erst schwach, dann stärker und schließlich ganz verzweifelt. Die kleine alte
Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre Arme. Wie weich und
sanft sie sich anfühlt, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde
Bündel. „Weine nur, Traurigkeit“, flüsterte sie liebevoll, „ruh dich aus, damit
du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an nicht mehr allein wandern:
Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr an Macht
gewinnt.“
Die
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