Das Leben in 38 Tagen
mich
einen ziemlich abgearbeiteten Eindruck machten, blieben sie trotzdem stets
freundlich und entgegenkommend. Sobald man den kleinen, unscheinbaren Wirt auf
Spanisch ansprach, konnte man eine interessante Veränderung an ihm feststellen.
Plötzlich fingen die müden Augen zu leuchten an und sein faltiges, graues
Gesicht begann zu strahlen. Die spanischen Worte sprudelten nur so aus ihm
heraus, bis er merkte, dass ihn keiner verstand, obwohl wir uns alle Mühe
gaben. Dann wurde sein Gesicht wieder schlaff und die Augenlider fielen nach
unten.
Carol verabschiedete sich ins Bett und ich
machte die anderen auf das graue, müde Gesicht des Wirtes aufmerksam, aber sie
hatten trotzdem noch keine Lust, um 22.30 Uhr ins Bett zu gehen. Vor allem
Achim und Simone fanden Spaß daran, einen Weinbrand nach dem anderen zu trinken
und auf die zurückgelegte Strecke anzustoßen. Ich unterhielt mich ein wenig mit
dem Berliner von gestern Abend, der auf einmal neben mir stand.
Er erzählte mir, dass er nur noch eine
Woche Zeit hätte und deshalb ein Stück mit dem Bus fahren müsste, um wenigstens
die letzten hundert Kilometer laufen zu können. Dies ist ja notwendig, um in
Santiago die Pilgerurkunde zu bekommen. Er war auch nicht den Camino Francés
gegangen, sondern parallel dazu ein Stück an der Atlantikküste entlang, um dann
quer auf den Hauptweg zu gelangen. Es gibt ja viele mögliche Pilgerwege und er
schwärmte von seinem wenig frequentierten Camino. Er war humorvoll und
begeisterungsfähig und das gefiel mir. Obwohl er jetzt in Düsseldorf mit seiner
Freundin lebte und von seiner Familie in Berlin getrennt war, hatte er sich
doch den typischen Berliner Charme behalten.
Wir beide hätten bestimmt gut zusammen
laufen können, aber ich sollte wohl andere Menschen kennen lernen...
17.
Bringt mich der Regen zum Weinen?
Ein bisschen leid tat es mir schon, mich wieder einmal von einem sympathischen Menschen
verabschieden zu müssen, aber in mir war auch genug Vertrauen, dass mir das
Richtige schon zur rechten Zeit begegnen würde. Bis jetzt hatte ich das
beruhigende Gefühl noch nicht verloren, dass mich jemand führt und beschützt,
selbst bei meinem Sturz und im größten, scheinbar endlosen Matsch. Denn wie
Jutta gesagt hatte: Der Camino ist wie das Leben mit all seinen positiven und
negativen Facetten. Wir können nicht entscheiden, was uns begegnen wird, aber
wir können mit Vertrauen und Mut allem Kommenden positiv entgegengehen, es
annehmen, genießen oder einfach nur versuchen, das Beste daraus zu machen.
Albert Schweitzer hat einmal gesagt: „Das Entscheidende in unserem Leben sind
nicht die Ereignisse, sondern das, was wir daraus machen.“ Vielleicht ist das
auch eine Lektion des Camino; alles Vergangene bewusst als Vergangenheit zu
akzeptieren, loszulassen und mit Vertrauen und Mut weiterzugehen...
Am nächsten Morgen hieß es für uns fünf
alte Pilgergesellen auch erst einmal weiterzugehen, und zwar zunächst bis zum
7,5 Kilometer entfernten Boadilla del Camino. Achim,
Irene und Edith waren schon etwas vorausgegangen, als Simone und ich auf einmal
eine Bekannte auf dem gelben Feldweg überholten. Elli aus Süddeutschland mit
ihrer glatten, dunklen Pagenfrisur, den neugierigen Augen und dem kleinen
Tagesrucksack hatten wir schon gestern kurz hinter Castrojeriz kennen gelernt.
Sie war etwas über sechzig Jahre alt und schnatterte ohne Unterlass, sobald
sich ein Opfer fand. Sehr erfreut, uns wieder zu treffen, stürzte sie auch
gleich mit einem Wortschwall auf uns los. Sie wurde nicht müde, uns zu
bewundern, wie weit wir seit gestern gegangen waren, da sie ja die Strecke von
Castrojeriz bis Itero de la Vega mit ihrer Reisegruppe im Bus gefahren war. Und
wie toll sie es fand, dass wir allein den ganzen Camino laufen würden, und wie
schade, dass sie mit ihrer Reisegruppe immer nur ein Stück laufen konnte und,
und, und... Gestern hatte sie es geschafft, uns in zehn Minuten ihren gesamten
Lebenslauf zu erzählen, und auch heute war sie schon wieder bei ihrer
pflegebedürftigen Mutter angelangt, als plötzlich hinter einer kleinen Anhöhe
ein auffallend gut gekleideter alter Mann auftauchte. Mit seinen glatten,
frisch nach hinten gekämmten schwarzen Haaren und den ebenso dunkel blitzenden
Augen wirkte er auf uns wie ein typischer schnittiger Spanier. An seinem
schwarzen Anzug trug er ein Namensschild und er zeigte keine Hemmungen, uns
gleich auf Spanisch anzusprechen. Anscheinend stand er öfter hier inmitten
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