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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Geschichten von alten, verflossenen Liebschaften widerstehen. Wenn ich an Jonathan dachte – falls ich an ihn dachte –, kamen die Erinnerungen bruchstückhaft, ohne Ton und verrauscht. Unsere gemeinsame Zeit hatte die surrealen Dimensionen eines Traums oder einer Kindheitserinnerung angenommen.
    Ich gewöhnte mir an, länger und länger zu arbeiten, weil es nichts gab, das mich davon abgehalten hätte. Ich hatte den Eindruck, dass Viktor und Boris in einer ähnlichen Lebenssituationen steckten – sie gehörten vermutlich zu der Sorte junger Leute, die auf durchgelegenen Matratzen schliefen, ihre Bücher auf dem Boden aufstapelten und ihre Gerätschaften gar nicht erst auspackten. Sie führten die Flüchtlingsexistenz von Studenten, die noch nicht begriffen haben, dass sie den materiellen Dingen Bedeutung beimessen sollen, nicht nur den Ideen.
    Doch obwohl ich so viel Zeit in Alexanders Wohnung zubrachte– zwölf, vierzehn, sechzehn Stunden am Tag –, obwohl ich immer später in die bittere Dunkelheit hinausstolperte, an der Tür des Hostels klingelte und von dem Rezeptionisten mit mal missbilligenden, mal gleichgültigen, mal wissend-amüsierten Blicken empfangen wurde, sprachen Alexander und ich nie wieder über meinen Vater. Manchmal kam er mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck auf mich zu, und ich war beinahe sicher, dass er etwas gefunden hatte – den Originalbrief meines Vaters vielleicht oder eine schlüssige Antwort auf dessen Fragen oder eine magische Formel für das Leben und den Tod. Aber das hatte er nicht. Er gab mir keine Antworten. Stattdessen gab er mir Pressemitteilungen, E-Mail-Entwürfe, Plakate. Grauenvolle Zahlen zu den Sprengstoffanschlägen: 300 Tote, 108 zerstörte Gebäude, Hunderte festgenommene Tschetschenen und 17 Verurteilte. Es waren Fakten, angesichts derer einem die eigene Suche nach Erleuchtung beinahe peinlich war. Und das war gut so, denn diese Erleuchtung kam nicht. Stattdessen vergingen Wochen, bevor Alexander und ich überhaupt wieder ein längeres Gespräch führten.
    Es war spät, und ich wollte mich gerade widerstrebend auf den Heimweg machen. Ich hatte einen Kommentar für eine britische Zeitung neu übersetzt und zeigte ihn Alexander. »Hier, fertig«, sagte ich und schwenkte den Papierstapel durch die Luft. Er saß an seinem Laptop. In dem Panoramafenster hinter ihm erkannte ich das Spiegelbild einer Partie Online-Schach. Auf dem Schreibtisch stand ein echtes Set, ein teures, vermutlich, das sehr alt und sehr schön aussah. Ich stutzte. Ich hatte ihn noch nie spielen sehen.
    »Danke«, sagte er und entließ mich mit einem Winken.
    Ich konnte die Augen nicht von dem Spielbrett lassen. »Spielst du gerade?«, fragte ich.
    »Schach.«
    »Das sehe ich.«
    Er zog einen Läufer in die Mitte des Bildschirms und führte den entsprechenden Zug auf dem Spielbrett aus. »Du hast zu Hauseauch gespielt, nicht?«, sagte er. Er klang heiser, als hätte er in letzter Zeit sehr viel geredet oder als hätte er tagelang geschwiegen. Es musste wohl Ersteres sein.
    »Nicht viel. Mit einem der Schachspieler auf dem Harvard Square. Und mit meinem Vater, wie gesagt.« Ich wartete auf einen Kommentar von ihm. Es kam keiner.
    »Weißt du, was ein Narrenmatt ist?«, fragte er.
    »Nein.«
    »Der kürzestmögliche Weg zum Schachmatt. Es geht so.« Er stellte die Figuren auf dem Brett in ihre Ausgangspositionen zurück. »Zwei verbundene Bauern und eine gut platzierte Dame. Das war’s.«
    »Passiert das jemals im echten Leben?«
    »Nein, nie. Es ist nur eine theoretische Möglichkeit. Schach ist ein rein theoretisches Spiel.« Er klang ein wenig verbittert, fand ich.
    Ich betrachtete seine Figuren. Die Mähnen der Springer schwangen sich nach hinten wie auf einem mythischen Schlachtfeld vom Wind bewegt; die Könige waren gebeugt, knorrig, majestätisch. Sie waren prachtvoll, eher wie Statuen auf einer mittelalterlichen Brücke als wie das, was sie im Grunde genommen waren – bloße Spielzeuge. Das Aussehen der Könige gab mir Mut.
    »Wie hast du spielen gelernt?«, fragte ich.
    Alexander kratzte sich an der Nase. »Ich habe ein Schachproblem in der Zeitung gesehen und es gelöst.«
    »Ja, aber wie hast du es gelernt?«
    »Genau so habe ich es gelernt. Ich war vier Jahre alt.« Er kippte mit dem Daumen den König des besiegten Narren um. Die Figur landete klappernd auf dem Brett. »Dann hat meine Mutter mir einen Lehrer gesucht. Dann habe ich einen Fernlehrgang gemacht. Dann bin ich hier

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