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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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gelandet. Ende der Geschichte.«
    »Ah«, sagte ich und wusste nicht, was ich noch sagen sollte.
    »Wusstest du, dass sie in Saudi-Arabien ohne Damen spielen?«
    »Klingt irgendwie einleuchtend.«
    »Es ist eigentlich ein ziemlich subversives, radikal feministisches Spiel, wenn man mal darüber nachdenkt.«
    »Wer war dein letzter ebenbürtiger Gegner?«
    Er sah mich an, wie um einzuschätzen, ob ich absichtlich grausam war. »Ein Computer«, sagte er. »Wusstest du das nicht?«
    »Oh.« Ich schlug die Augen nieder. Jetzt erinnerte ich mich wieder, ungefähr jedenfalls – an die amüsierten Schlagzeilen, die Zeitungen, die mit munterer Häme über die Erkenntnis stolperten, dass der Mensch seinen eigenen überlegenen Gegner geschaffen hatte. Das größte Schachgenie der Welt war von einem Computer besiegt worden; wofür brauchte man da noch Schachgenies oder überhaupt das menschliche Genie? Ich war beinahe froh, dass mein Vater nicht lange genug bei Verstand geblieben war, um das mitzuerleben. »An das eine oder andere erinnere ich mich noch, glaube ich«, sagte ich.
    »Bestimmt tust du das. Die Newsweek hat das Spiel ›Das Rückzugsgefecht des Gehirns‹ genannt.« Er lachte reumütig. Dann begann er mir davon zu erzählen.
    Die Pointe an dieser Niederlage, sagte er, war folgende: Wenn Schach überhaupt je einen Sinn gehabt hatte – und Alexander hätte jederzeit zugegeben, dass das vielleicht gar nicht der Fall war –, war es damit nach der Erkenntnis, dass alle Schachprobleme der Welt durch unbewusste, ins Leere feuernde Roboterneuronen gelöst werden konnten, endgültig vorbei. Großes Schach als eleganteste Errungenschaft des menschlichen Geistes gab es nicht mehr; die wahre Leistung bestand darin, etwas Größeres und Besseres zu erschaffen als sich selbst und ihm staunend zuzusehen. Menschen mussten sich zur Ruhe setzen oder sich bescheidenere Beschäftigungen suchen. Jeder wusste das. Selbst aus den Witzen, die man sich hinterher in den Bars, in den Nachrichten, im Internet erzählte, sprach diese Erkenntnis. »Passend dazu«, hatte einer der Talkshow-Moderatoren gesagt, »erreicht uns soeben die Meldung, dass die New York Mets von einem Mikrowellenherd besiegt worden sind.«
    Das Schlimmste aber war die Geschwindigkeit, mit der das Programm spielte – Alexanders Züge wurden unmittelbar durch den Computer gekontert und übertrumpft, ohne das Zögern, Schwitzen und Zweifeln, das einem bei jedem brillanten menschlichen Spielzug das Gefühl gab, es hätte auch anders laufen können. Der Computer agierte nüchtern und rücksichtslos, und Alexander begriff mit beklemmender Gewissheit, dass es nichts gab, was er sich hätte ausdenken können, ohne dass der Computer es im Voraus mitbedacht hatte. Er war effizient wie eine Guillotine.
    Der Mann, der für den Computer spielte, hatte weiche Gesichtszüge, Pausbacken, Hände wie Hähnchenschnitzel und ein breites, unschuldiges Hasengesicht. Er vollführte bei jedem Zug eine kleine Geste, ein fast unmerkliches halbes Schulterzucken (Alexander hätte nie sagen können, ob es auf den Filmaufzeichnungen erkennbar war oder nicht), als wollte er sich davon distanzieren – ich nicht, schien es sagen zu wollen, ich bin es nicht, der dir das hier antut, der dich erniedrigt, der den menschlichen Geist entzaubert. Ich bin nur das Medium, der Bote, der Mechanismus. Ich bin, ganz bescheiden, nur eine Spielfigur.
    Am Ende dauerte es kümmerliche neunzehn Züge – die schnellste Niederlage in Alexanders ganzer Karriere. Er hatte mit einer Caro-Kann-Verteidigung eröffnet – die er gegen menschliche Gegner selten einsetzte, aber eine Zeitlang schien alles unter Kontrolle zu sein: Er setzte den zwei parallel vorrückenden Bauern des Computers eine Zweierkette entgegen, und es kam zu einem kurzen Schlagabtausch. Dann folgte die ritualisierte Entwicklung der Springer. Er hatte seine eigene Regel gebrochen – führe nie während der Eröffnung dieselbe Figur zwei Mal –, aber insgesamt war der Beginn der Partie konventionell und aussichtsreich gewesen. Der Computer schickte seinen Springer vor, und Alexander entwickelte seinen zweiten. Die drei Springer formierten sich zu einer leicht gebogenen Postenkette. Der Computer rückte seinen Läufer vor. Alexander zog einen Bauern auf e6 und stellte ihn seinem Springer zur Seite. Der Computer reagierte, indem er seinerseits den zweitenSpringer entwickelte. Dann rückte Alexander den Randbauern auf h6 vor, und sobald er die Hand von

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