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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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dieses Angebot noch nie angenommen hatte.
    »Nein, danke«, sagte Alexander. »Wozu ist er gut?«
    »Für die Verdauung.«
    »Was hast du schon zu verdauen? Du isst doch gar nichts.«
    »Ich esse reichlich«, sagte Nina müde. »Wie war dein Treffen mit der seltsamen Amerikanerin?«
    »Ganz gut.«
    »Ja?«
    »Ich habe sie eingestellt.«
    »Du hast was?«
    »Sie eingestellt«, sagte er. »Ich will sie ins Team eingliedern, weißt du? Sie wird uns noch nützlich sein.«
    Ninas Wasser kochte, und sie goss es über die Teeblätter. Ein bitterer Geruch wölkte hoch, beißend und unangenehm, und Alexander wich zurück. »Wirst du sie bezahlen?«, fragte Nina.
    »Sie sagt, sie bräuchte kein Geld. Ich zahle ihr irgendeinen symbolischen Betrag.«
    »Das ist sehr merkwürdig.« Nina nippte an ihrem Tee. »Was, wenn sie dich aushorchen will?«
    Daran hatte Alexander auch gedacht. Doch nach dreißig Jahren der Paranoia – nach all den Spionen in dunklen Ecken, Geistern im Schatten, Mördern im öffentlichen Nahverkehr und Terroristen in der Mitte der Gesellschaft – war er vollkommen sicher, dass sie keine Agentin war.
    »Was, wenn du mich aushorchen willst?«, sagte er und griff in Ninas volles Haar.
    »Hör auf damit, Grib«, sagte sie. »Ich habe sie gerade geföhnt.«
    In der Nacht konnte Alexander – schon wieder; hoffentlich war es kein Trend – nicht einschlafen. Er lag im Bett, neben sich die reglose Nina, und bemühte sich, die Beine still zu halten. Er atmete tief durch, aber die Luft verfing sich irgendwo in seiner Kehle, wühlte kleine Wellen der Sorge auf und strudelte durch tiefe Seen der Ruhelosigkeit. Er wollte nach Moskau. Er wollte einen Marathon laufen. Er wollte, stellte er fest, endlich einmal die Wohnung verlassen.
    Eine Zeitlang, bis vor wenigen Jahren sogar, war Alexander noch hin und wieder spazieren gegangen. Aber er hatte wie amerikanische Staatsoberhäupter, die auf sportliche Betätigung unter freiem Himmel nicht verzichten wollten, immer einen kleinen Tross schwarzgekleideter Leibwächter dabeigehabt. Das war für ihn ermüdend, für sie langweilig, und in Sachen Freiheit und Muße war damit überhaupt nichts gewonnen. Also hatte er es in den vergangenen Jahren mehr oder weniger aufgegeben. Seine Wohnung war seine Welt geworden – geschmackvoll eingerichtet (alles Ninas Verdienst), und wohlorganisiert: Um fünf Uhr fünfzehn standen Toast und Tee auf dem Tisch, um Punkt vier Uhr ein dampfender Espresso, und sein Laptop wartete aquatisch blau blinkend in der Dunkelheit darauf, ihn mit der Außenwelt in Kontakt zu setzen. In dieser Wohnung lebte es sich wie in einem Museum, dachte er manchmal; alles war so makellos sauber, alle Gegenstände wie von einem Kurator sorgfältig zusammengestellt. Jedes Zimmer hatte seinen eigenen unaufdringlichen Duft – Zitrone in der Küche, Lavendel im Schlafzimmer und im Badezimmer eine Art Meeresbrise, die ihn zum Niesen reizte. Manchmal durchstreifte er die Wohnung abends von einem Ende zum anderen, und wenn er den Fuß auf den nachgiebigen weißen Teppichboden setzte, stieg ihm der rohe Geruch des Lehms in Sachalin in die Nase. In seinem erhabenen, gewaltigen, vielschichtigen Bett fühlte er die tödliche Kälte des Zimmers in der Kommunalka.
    Kein Wunder also, dass er manchmal beim Erwachen an etwas würgte, das sich wie Angst anfühlte. Manchmal hielt er es einfach nicht aus – den subtilen Prunk, die übernatürliche Ruhe, wie verdammt geordnet immer alles war, wie in einer Planwirtschaft.
    Er setzte sich auf. Er schlüpfte aus dem Bett und zog sich den Mantel über seinen Schlafanzug, dann stieg er in seine Laufschuhe – ein Weihnachtsgeschenk von Nina, die ihn bei der Bescherung grinsend in die kräftige Körpermitte gezwickt hatte –, dann gab er neben der Wohnungstür den Sicherheitscode in den unterirdisch grün blinkenden Kasten ein, und dann stand er draußen auf demGehweg. Er versuchte sich zu erinnern, wann er zuletzt allein draußen gewesen war. Früher hatte er es manchmal aus Unbesonnenheit getan, bis das Ohr zum Fenster hereingeflogen war, und danach aus Trotz. An einem vergessenen Hochzeitstag, als es zu spät war, ein Geschenk zu bestellen, war er frühmorgens hinausgeschlichen und war sehr stolz auf seinen Sinn für Romantik gewesen – seine Bereitschaft, Leib und Leben zu riskieren, um seiner Frau ein diamantenes Armband zu besorgen. Hatte sie es je getragen? Er wusste es nicht mehr.
    Die Kühle der Morgenluft, das Knarren des Schnees

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