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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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sich Verschwörungstheoretiker, ob er die Partie absichtlich verloren hatte, damit er eines Tages eine Revanche fordern und ein höheres Preisgeld gewinnen könnte. Aber so war es nicht. Vielleicht war der Computer auch gar nicht unschlagbar. Vielleicht stimmte es nicht, dass seine Brillanz die menschliche Vorstellungskraft überstieg. Vielleicht lag es einfach daran, dass Alexander vierzig war. Dass er müde war.
    Der Computer stand seitdem im Smithsonian in Washington, D. C., und ließ für die Besucher eine Simulation jener letzten Partie in Endlosschleife laufen.
    Das alles erzählte Alexander, und dann schwiegen wir. Es war eins dieser Geständnisse, nach denen man sich so unwohl fühlt, dass einem nichts übrigbleibt, als selbst eins zu machen.
    »Tja«, sagte ich. »Ich habe eine Krankheit, die mich den Verstand kosten wird.«
    Alexander hob die Augenbrauen. »Was?« Die Andeutung eines Lachens lag in seinem Tonfall. Auf haarsträubende Informationen reagieren Menschen häufig mit Gelächter.
    »Man nennt sie Chorea Huntington«, sagte ich. »Daran ist auch mein Vater gestorben. Man kann testen lassen, ob man es hat. Erst trifft es die motorischen Fähigkeiten, dann die geistigen. Vom Cortex abwärts.«
    Alexander wandte den Blick ab, was jeder zuerst tut. Dann hob er den Blick wieder, und ich konnte dabei zusehen, wie er seine Reserven an Mitgefühl, Pragmatismus und emphatischer Vorstellungskraft mobilisierte, um eine passende Antwort zu formulieren.Ankündigungen wie diese haben die Tendenz, ihre Adressaten aus der Fassung zu bringen, und dann rücken die Verwirrung und der Schock in den Mittelpunkt des Gesprächs. Ich habe lange Zeit gehabt, mich mit der Krankheit auseinanderzusetzen, und die anderen nicht. Trotzdem stört es mich manchmal, wie sehr ihre Reaktionen in dieser Art von Gespräch in den Vordergrund rücken, und ich wusste es zu schätzen, dass Alexander diesen Effekt zu vermeiden versuchte.
    »Und das passiert dir … bald?«, fragte er. Ich hörte, wie er absichtlich ebenmäßig und deutlich sprach.
    »Dieses Jahr. Oder nächstes vielleicht.«
    »O Gott.« Er senkte den Blick. Er nahm seine Brille ab und massierte sich die Nasenwurzel, eine Geste, die er so oft und aus so alltäglichen Gründen vollführte, dass ich wusste, dass sie nicht aufgesetzt war. »O Gott. Irina. Es tut mir so leid.«
    Es war mir immer schwergefallen, es anderen zu erzählen. Ich fühlte mich jedes Mal schuldig dafür, meinem Gesprächspartner den Tag zu verderben, und er fühlte sich schuldig, wenn sein Tag nicht ausreichend verdorben worden war. Ich gebe zu, dass es sich manchmal seltsam anfühlte, wenn ich es jemandem gestand und ihn später dabei ertappte, wie er lachte, flirtete oder ein Sandwich aß, statt mit der Ungerechtigkeit der Welt zu hadern oder in tiefe, stumme Trauer zu versinken. Meine Lebenskatastrophe war für die anderen vielleicht nur das Unangenehmste, was sie an jenem Nachmittag zu hören bekamen; vielleicht hatten sie es beim Abendbrot schon wieder vergessen; vielleicht setzten bestimmte Kinofilme ihnen viel schlimmer zu. Ich werde dabei ziemlich gnadenlos damit konfrontiert, welchen genauen Wert ich für andere habe – je nachdem, ob sie weinen, sich setzen müssen oder gramvoll den Mund verziehen, während ihre Augen ganz woanders sind.
    »Herrgott«, sagte Alexander. »Hast du Angst?«
    Ich war nicht sicher, ob mir je jemand diese Frage gestellt hatte. Die Leute hatten immer gestaunt, wie tapfer ich sei, waren davon ausgegangen, dass ich Mut bewies, wenn ich lächelte, wenn ich zurArbeit kam und mir die Zähne putzte. Ich war davon weniger überzeugt. Ich ging zur Arbeit, wie jemand aufrecht geht, dem man eine Pistole an die Schläfe hält: Es gab absolut keine Alternative. Ich hätte mich natürlich hinlegen und sterben können. Aber das war gerade das, was ich vermeiden wollte.
    »Ja«, sagte ich. »Furchtbare Angst.«
    Er nickte, wie um zu sagen, dass das die richtige Antwort war. Er griff nach seinem gefallenen König und rollte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. »Deshalb bist du hergekommen.«
    Es war nicht als Frage formuliert, trotzdem sagte ich: »Ja.«
    »Deshalb stellst du diese Fragen nach dem Verlieren und den sicheren Niederlagen.«
    »Genau.«
    Er legte den König mit dem Gesicht nach unten auf den Tisch. »Lass mich dir etwas zeigen.«
    Er stand auf und holte eine große Zigarrenkiste aus dem Regal über dem Schreibtisch. Dann setzte er sich wieder und stellte

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