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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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unter seinen Schuhen – sie waren bald durchnässt, und ein brandiger Schmerz kroch ihm die Beine hoch – erinnerten ihn an die quälend kalten frühen Morgenstunden Anfang der Achtziger, als er, noch bevor die Dämmerung am Himmel zu zerfließen begann, durch die Stadt gelaufen war und die Freiheit seiner schrumpfenden Anonymität genossen hatte. Beinahe beneidete er diese sonderbare Amerikanerin um jene Wunde, die sie dazu getrieben hatte, allein ihre Heimat zu verlassen und umsonst für ihn arbeiten zu wollen. Was immer es war, was immer sie gebrochen hatte – es hatte auch den Mechanismus zerstört, der klein war und geduckt, der immer ängstlich über die Schulter sah.
    In der Ferne konnte Alexander beinahe die tintenschwarzen Grate der modernen Bürogebäude sehen, den abblätternden Glanz der zerfallenden Paläste, die schieferfarbene Windung der Newa. Niemand wusste, dass er unterwegs war, und mit seiner dicken Mütze konnte er stundenlang unerkannt umherwandern. Seit Jahren riskierte er alles für die großen Grundfreiheiten – das Recht auf freie Wahlen, auf einen freien Markt, das Recht, das Führungspersonal grausam zu karikieren. Aber es gab auch diese kleine Freiheit, unbeaufsichtigt durch die verschneiten Straßen zu laufen. Alexander ging den Newski-Prospekt entlang. Die ersten Bäckereien öffneten gerade, und durch die Fenster der Kasaner Kathedrale troff Licht. Alexander bog in die Nabereschnaja reki Moyki ein. In der mürrischen, nachtschattigen Dämmerung sah dieMoika aus wie Aluminium. Bald würde Nina aufstehen und auf das Laufband steigen, und vielleicht würde sie sich wundern, wo er war, und bald darauf würde sie vielleicht anfangen, sich Sorgen zu machen. Vielleicht würde sie zwei schroffe, aufgebrachte Nachrichten auf seinem Handy hinterlassen, und die dritte würde vielleicht lang, bittend und zärtlich werden. Vielleicht würde sie Vlad anrufen, und er würde sich vielleicht ins Auto setzen und Alexanders schlammige Turnschuhabdrücke quer durch die Stadt verfolgen. Aber im Augenblick war Alexander weit weg von alledem. Im Augenblick war er hier draußen, allein, und der Wind schnitt ihm in die Lungen, und mit jedem Schritt näherte er sich seiner Stadt.

KAPITEL 16
    Irina
    St. Petersburg, 2006
    Alexander war brillant; natürlich war er das. Jeder konnte es sehen, und jeder sah es auch. Aber er war nicht ganz so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, oder besser gesagt nicht ganz so, wie ich mir vorstellte, dass mein Vater ihn sich vorgestellt hatte. Wenn das Dienstmädchen ihm seinen Nachmittagsespresso hinstellte, bedankte Alexander sich nie bei ihr – meistens blickte er nicht einmal auf. Wenn seine Mitarbeiter ihn enttäuschten, blaffte er sie an; wenn er etwas zu hören bekam, das er für unsinnig hielt, zog er mit derart vernichtender Geringschätzung eine Augenbraue hoch, dass im ganzen Saal jedes Gespräch verstummte. Die Wohnung war absurd: Sie war so dekadent wie Versailles, mit unzähligen albernen kleinen Apparaturen, die dazu dienten, das Leben einfacher zu machen, als es sein sollte – ein Gerät, das gleichzeitig Brötchen toasten und Spiegeleier braten konnte, Parfümfläschchen mit Holzstäben darin, die rund um die Uhr ihren frischen Duft verbreiteten.Und die Ehe war genau so, wie Viktor sie beschrieben hatte. Es war eine jener Beziehungen, die in ihrer Durchschaubarkeit jeden Unbeteiligten peinlich berühren – ihre kleingeistige Eigendynamik, ihre festgefahrene Verbitterung sprachen aus jeder Geste, wenn Nina Alexander eine Kaffeetasse überreichte oder wenn er ihr nachblickte, wenn sie den Raum verließ. Alexanders Mitarbeiter respektierten ihn – und nicht wenige bewunderten ihn zutiefst –, aber auf Ninas Auftritte folgten unweigerlich ein paar angespannte, klamme Sekunden, in denen alle den Blick in ihre Papiere senkten, um ihr Mitleid zu verbergen. Ich hielt mich nicht weiter damit auf, darüber nachzugrübeln. Ehen zerbrechen so oft und auf so viele verschiedene qualvolle Weisen, dass der Versuch, bei einer davon den genauen Ursachen nachzuspüren, ungefähr so aussichtsreich ist, als wollte man die Todesursache von jemandem ermitteln, der keinerlei Immunsystem hatte. Aber manchmal war da eine Spur von Müdigkeit in Alexanders Blick oder von Ironie in seinen Worten, die mich an Elisabeta denken ließ und daran, wie Alexander ausgesehen hatte, als er ihren Namen hörte.
    Allerdings kann es gut sein, dass ich einiges hineinprojizierte. Wer kann schon

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