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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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der Figur löste, wusste er es. Die aufmerksamen Zuschauer wussten es. Er hatte den Bauern zu früh eingesetzt – er hätte erst seinen Läufer entwickeln, dann den großen Auftritt der Dame des Computers abwarten sollen, und dann wäre es Zeit gewesen, mit dem Bauern auf h6 den Springer des Computers anzugreifen. Dieser Springer hätte sich in die Brettmitte zurückgezogen, und Alexanders Springer hätte ihn dort angreifen können. Der h6-Zug gleich nach dem Springer des Gegners war ein Fehler. Er war ein Fehler, aber kein strategischer Fehler – es war kein Trugschluss, keine inkorrekte Prognose. Es war ein Gedächtnisfehler, ein Versagen ganz grundlegender Kompetenzen – wie wenn man seine Autoschlüssel verlegt oder einen Teller fallenlässt.
    Der Springer des Computers schlug einen anderen Bauern auf e6 und setzte sich Alexanders König in den Nacken. Hätte er diesen Springer gleich nehmen sollen? Vielleicht. Später sagten viele, viele Menschen – anonym zumeist, im Internet, nachdem sie jahrelang in aller Ruhe darüber nachgedacht hatten –, er hätte gleich zuschlagen sollen. Er hatte es nicht getan. Er hatte seinem König ein weiteres Feld zum Manövrieren lassen wollen. Er hatte das Springeropfer zugelassen, das kein Anzeichen für eine besonders brillante Strategie des Computers war; das Opfer war ein langweiliger, beinahe kindlicher Zug, den die Schachwelt zur Genüge kannte. Er hatte ihn selbst einmal während seiner dreiundfünfzig Partien gegen Russajew eingesetzt – damals, als er das neue Faszinosum gewesen war, der brillante neue Kopf, den alle bestaunten.
    Zu dem Zeitpunkt, hieß es später in den Zeitungen, hatte Alexanders Gesicht einen »Ausdruck des Grauens« angenommen, den es bis zum Ende des Spiels beibehielt.
    Also hatte er die Möglichkeit verloren, zu rochieren, was der Computer gleich darauf tat – stillschweigend und brutal, ohne Kommentar, und die Stirn des weichen Mannes blieb trocken und glatt.
    Alexander tat den notwendigen nächsten Schritt, indem er den Springer schlug, und der Läufer segelte in die Lücke, die sein zu früh gezogener Bauer hinterlassen hatte, und bot ihm Schach. Er führte den König ein Feld nach rechts; etwas anderes blieb ihm nicht übrig. Es war erst der zehnte Zug der Partie.
    Der zweite Läufer des Computers pirschte sich über das halbe Brett vor und legte sich auf die Lauer. Alexander drohte ihm halbherzig mit seinem Springer, und der Läufer zog sich vorübergehend um ein Feld zurück.
    Wieder gab es einen Bauernabtausch, diesmal schon schmutziger und verzweifelter. Alexanders Hals war klitschnass, und er blickte sich instinktiv nach einem Ausgang um. Der fette Mann ihm gegenüber wirkte gelassen; seine Wangen bliesen sich mit jedem selbstzufriedenen Atemzug auf und schwollen wieder ab. Dieser Mann – wer war er überhaupt? Hatte er an dem Computer mitgebaut? Hatte er sich jahrelang in Schachtheorie und Programmiersprachen vertieft, hatte er eins in das andere zu überführen gelernt, um eine Maschine zu erschaffen, die extrapolieren und rückschließen konnte? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich war er ein Niemand, einfach irgendwer, der in der Lage war, ein, zwei Knöpfe zu drücken. Alexander dachte verbittert, dass er nicht nur Verrat am Schach beging, wie einige der Kritiker im Internet schrieben. Er beging Verrat an der Menschheit.
    Alexander hatte die Augen geschlossen und seine Dame für einen Läufer und einen Turm geopfert. Den Läufer des fetten Mannes nahm er gierig, als kleine, vorübergehende Genugtuung. Es war ein verzweifelter Zug: Er fühlte, wie er in einen Brunnenschacht stürzte, hörte das Kratzen seiner Fingernägel am Beton. Jeder fühlte es. Der fette Mann hustete. Die Zuschauer murmelten, wandten den Blick ab.
    Und dann hatte er aufgegeben. Er war vielleicht nicht klug genug, um einen Computer zu besiegen, aber sehr wohl klug genug, zu merken, wenn er besiegt worden war. Er hatte nicht vor, sich der unausweichlichen Erniedrigung auszusetzen; er hatte nicht vor,sich in immer neue, immer hoffnungslosere Rückzugspositionen drängen zu lassen, während die ganze Welt ihm zusah. Er stand auf. Er verließ den Saal. Er schüttelte dem fetten Mann nicht die Hand.
    Später fragten ihn die Leute immer wieder nach dem Bauern – dem etwas verfrühten Zug auf h6. Er konnte nur sagen, er wisse es nicht, er wisse es nicht. Es war ein Fehler gewesen, und er wusste nicht, wie oder warum er ihm unterlaufen war. Im Internet fragten

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