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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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ihn selbst); dann gab es ehemalige treue Parteigänger, die offiziell abgeschworen hatten, und solche, die immer, immer taten, was gerade opportun war, und es heutzutage für angezeigt hielten, oppositionell eingestellt zu sein. Und es gab Leute wie Mischa – Mischa, der auf seine alten Tage ultranationalistisch geworden war und der nichts unternahm, um die rassistischen, fremdenfeindlichen, antisemitischen Kräfte im Wahren Russland im Zaum zu halten, und der manchmal auf Alexanders Kundgebungen auftauchte, umstörende Zwischenrufe zu machen und Schilder mit unmöglichen Parolen zu schwenken.
    »Du scheinst nicht gut voranzukommen. Hast du Rechtschreibprobleme?«, fragte Boris. Das Computerspiel gab fröhliche Synthesizer-Geräusche von sich.
    »Wahre Männer können ihre Aktivitäten auch länger als dreißig Sekunden durchhalten, weißt du.«
    Viktor trat gegen Boris’ Stuhlbein und fuhr fort, den Reiseplan für die Fahrt nach Moskau auszuarbeiten, die in einer Woche anstand. Sie waren schon in Wolgodonsk und Buinaksk gewesen und wollten in Moskau einen ehemaligen Soldaten interviewen, der sein Geld inzwischen mit Dingen verdiente, die, wie Alexander sofort eingesehen hatte, nicht filmisch dokumentiert werden sollten. Die Interviews sollten das letzte und wichtigste Drittel des Films ausmachen – nach der Analyse der Vorteile, die Putin aus den Anschlägen gezogen hatte, und einer Darstellung der Versäumnisse in der Presseberichterstattung –, und Alexander beneidete die beiden sehr um ihre Mobilität. Er selbst ging schon lange nirgendwo mehr hin.
    Viktor und Boris fingen an, Fragen und Nachfragen für das Interview zusammenzutragen, und der Nachmittag verging wie im Flug. Vlad überbrachte eine ziemlich zahnlose Morddrohung; einer der Assistenten überbrachte die Einladung zu einem Vortrag an der Yale-Universität. Um Punkt vier Uhr, als Alexander gerade anfing, müde zu werden, wurde ihm ein perfekt gebrauter, winziger Espresso serviert, der ihn wieder auf die Beine brachte. Dann ging die Tür auf, und Nina kam herein, gefolgt von einer seltsamen, überrascht dreinblickenden Amerikanerin. »Dein Besuch«, sagte sie und stöckelte davon.
    »Einen Moment«, sagte Alexander.
    Die Amerikanerin nahm ihre Mütze ab, was zur Folge hatte, dass ihr Haar nach allen Seiten abstand. »Sdráwstwuite«, sagte sie in so schlechtem Russisch, dass er zusammenfuhr.
    »Oh, bitte«, sagte er. »Ich spreche jetzt lange genug Russisch, dass mir das in den Ohren weh tut.«
    Anschließend hätte er nicht sagen können, was genau ihn dazu getrieben hatte, sie zu engagieren. Mitleid war es nicht, auch wenn er unwillkürlich Empathie empfunden hatte, und es hatte nichts mit ihrer Intelligenz (die sie allerdings besaß) oder ihrer Schönheit zu tun (die sie nicht besaß). Es war, wie er letztlich beschloss, die Art, wie sie von Elisabeta gesprochen hatte und wie sie vor seinen Augen mit tastenden, stolpernden Schritten zu einer sehr grundlegenden Erkenntnis über ihn gelangt war. Er redete sich ein, das sei eine gute Eigenschaft für eine Mitarbeiterin: die Fähigkeit, Rückschlüsse zu ziehen, eine Narration zusammenzufügen, sich intuitiv in das Innenleben ihrer Mitmenschen hineinzuversetzen. Und er war absolut sicher, dass sie in der Lage sein würde, die Pressemitteilungen in Ordnung zu bringen (was Viktor nach seinem Studium in Oxford allerdings ebenso gut konnte). Aber wenn er ganz ehrlich war, hatte er sie nicht wegen ihrer Englischkenntnisse angeheuert. Nicht, weil sie lektorieren und korrigieren konnte. Er hatte sie angeheuert, damit sie einfach nur da war und sein einziges unentdecktes Geheimnis mit ihm teilte.
    An jenem Abend – als die ganze Armada der Schreiberlinge und Redenschwinger wieder gegangen war und als Alexander sein Abendessen aus Gemüse und exquisitem Fisch beendet hatte und der Himmel vor dem Wohnzimmer aussah wie ein beinahe abgeheilter blauer Fleck – klackerte Nina quer über das Eichenholzparkett und setzte Teewasser auf. Alexander bestaunte oft ihre vielfarbige Sammlung verschiedenster Teebeutel in den Regalen – fremdartige, unbegreifliche Tinkturen, oft mit obskuren südamerikanischen Knollengewächsen darin – und dachte dann, dass sie der einzige greifbare Beweis in der gesamten Küche waren, dass Nina eine auf Nahrungszufuhr angewiesene kohlenstoffbasierte Lebensform war.
    Sie wedelte mit einem übelriechenden Teebeutel vor seinem Gesicht herum. »Magst du auch davon?«, fragte sie, obwohl er

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