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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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»Das glaube ich eher nicht, nein.«
    Alexander sah mich an, während er antwortete. »Doch«, sagte er bestimmt. »Ich glaube doch.« Zwischen Alexander und den beiden Jungen knisterte die Luft. Viktors Halsmuskulatur zuckte. Boris öffnete und schloss eine Faust. Sie schienen kurz vor einer Meuterei zu stehen.
    Doch dann erschien Nina in der Tür, den Kopf schief gelegt, das Haar zu einem strengen Dutt hochgebunden. »Mein Pilzchen«, sagte sie. »Dein Gemüse ist fertig.«
    Damit war Alexander verschwunden, und Viktor und Boris ließ er allein zurück – mit offenen Mündern, die Augen so weit verdreht, wie es anatomisch möglich war.
    Für die Reise überließ Alexander uns eine glänzend schwarze Limousine, so groß wie eine Segelyacht. Die Sitze waren ringförmig angeordnet, so dass Viktor, Boris und ich uns die gesamte Fahrt über ansehen oder aus dem Fenster schauen mussten. Ich hielt mich überwiegend an die Fenster. Wir waren mit dem Soldaten in einem Klub verabredet, und Alexander hatte Nina gebeten, mich mit passender Expeditionskleidung auszustatten. Was sie mir herausgesuchthatte, war hauchdünn und orange und viel zu klein; immer wenn ich die Arme ausstreckte, spannte es unvorteilhaft, also hielt ich sie eng an den Körper gepresst. Außerdem war es für das Wetter viel zu leicht, und ich rieb meine Oberschenkel am Ledersitz, um mich zu wärmen. In dem Auto gab es Flaschen mit Nobelwasser aus geheimnisvollen sibirischen Mineralquellen und grüne Sektkelche. Ich fühlte mich abwechselnd, als sei ich auf dem Weg zu einer Hochzeit oder zu einer Beerdigung. Ungefähr in der Oblast Nowgorod fingen Viktor und Boris an, Witze zu reißen.
    »Stalin erscheint Putin im Traum«, sagte Viktor. »Und er sagt zu ihm: ›Putin, wenn du an der Macht bleiben willst, musst du zwei Dinge tun: den Kreml grün anmalen und alle deine politischen Gegner töten.‹ Putin sieht ihn an und fragt: ›Warum denn grün?‹«
    »Den kannte ich schon«, sagte Boris.
    »Du kennst sie wahrscheinlich alle schon«, sagte Viktor.
    »Den hat mir deine Mutter im Bett erzählt.«
    Die Interviews, die Viktor und Boris bis dahin geführt hatten, waren federleichte, substanzlose Angelegenheiten gewesen – als persönliche Schicksale waren sie interessant, als Beweise aber nicht gerade zwingend. Die Interviewten hatten Geschichten erzählt, die so einprägsam und vertraut wie Mythen waren, aber solide Schlüsse konnte man nicht aus ihnen ziehen. Während der Fahrt sahen wir uns die Zusammenschnitte im DVD-Player der Limousine an. Die erste Zeugin war eine nervöse Studentin, die ihre feinen Gesichtszüge hinter einer klobigen Brille verbarg und immer wieder ihren Rock über die Knie zupfte. Sie hatte in der Nacht vor dem ersten Anschlag die Stimmen zweier Männer unter ihrem Fenster gehört – eine tiefe, dumpfe Stimme hatte darauf bestanden, etwas hier zu platzieren, nicht da. Die Frau hatte schabende Geräusche gehört und erst an ein Tier gedacht, aber dann waren da wieder die Stimmen gewesen, das gepresste Atemgeräusch eines übergewichtigen Mannes, ein unterdrückter Fluch.
    War das alles?, fragte Boris hinter der Kamera. Seine Enttäuschung war ihm deutlich anzuhören.
    Die junge Frau blinzelte und rückte ihre Brille zurecht. Ja, sagte sie, das war alles.
    Bei der Detonation hatte sie ihre Mutter und ihren jüngeren Bruder verloren, und erst Wochen später – erst als das Klingeln in ihren Ohren nachließ und die blutroten Verbrennungen auf ihren Beinen abzuheilen begannen – erinnerte sie sich an die Männer und daran, dass sie nicht wie Tschetschenen geklungen hatten.
    Im nächsten Interview sah man eine unglaublich dicke Frau, deren ältester Sohn am Abend vor dem Anschlag etwas in einer Bar mitgehört hatte. »Wird ein großer Tag morgen, was?«, hatte jemand gefragt, und ein anderer hatte ein bisschen zu grausam darüber gelacht. Der Sohn hatte es der Frau erzählt, als er im Krankenhaus lag, um sich von seinem Wirbelsäulenbruch zu erholen, was jedoch nicht geschah. Er war Turner von Beruf. Als er erfuhr, dass er sein Leben lang querschnittsgelähmt sein würde, hatte er sich als letzte sportliche Glanzleistung in eine selbstgeknüpfte Schlinge gewunden und sich erhängt.
    Sie starrte in die Kamera, während sie sprach. Die Kamera zoomte näher heran. Tränen wallten in ihren Augenwinkeln auf, liefen aber nicht über ihre Wangen. Es war ein berührender Moment. Aber ihre Geschichte bedeutete gar nichts, wenn man mehr als

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