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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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wie eine beleuchtete Eierschale. Wir sahen das Nord-Ost auf der Melnikow-Straße, und ich musste an das Geiseldrama von 2002 denken: wie Spezialeinheiten Geiselnehmer und Gefangene gleichermaßen mit Gift einnebelten und alle qualvoll im Schnee verendeten. Dann kamen mehr Klubs, mehr Restaurants, mehr triefende, ornamentale Opulenz. Der funkelnde Wagankowski-Friedhof zog an uns vorüber, wo die Opfer der Pestepidemieim achtzehnten Jahrhundert lagen. Dann sahen wir ein hell erleuchtetes Café mit dem Namen »Gaben des Meeres«.
    »Für Homosexuelle«, sagte Viktor, vertraulich zu mir herübergebeugt. »Boris, sollen wir anhalten?«
    Der Fahrer brachte uns zu einem Klub namens Absinth. In den höhergelegenen Fenstern konnte ich gerade eben einen Stapel pinkfarbener Würfel ausmachen und einen Hauch lilafarbenen Lichts. An der Tür wurde eine bezaubernde Frau abgewiesen; wutentbrannt schleuderte sie ihre Handtasche in eine Schneewehe.
    »Wie kriegen wir bloß Irina durch die Gesichtskontrolle?«
    Ich streckte die Zunge heraus.
    »Nett«, sagte Boris. »Das erhöht deine Chancen erheblich.«
    »Zum Glück gibt es ja auch noch Bestechungsgelder«, sagte Viktor. Er zeigte auf die obere Fensterreihe. »Da oben sitzen sie und sehen den anderen zu.«
    »Wer?«
    »Die reichen Männer. Die haben da oben Privatkabinen mit Spiegelglas und sehen den Frauen beim Tanzen zu. Wenn sie eine entdecken, die ihnen gefällt, laden sie sie auf einen Drink ein.«
    Wir reihten uns hinter rotsamtenen Absperrbändern in die Schlange ein. Ich stampfte mit den Hacken in den Schnee und verflocht meine Hände ineinander, um mich warm zu halten. Ich fragte mich, ob die für dieses Wetter vollkommen ungeeignete Frauen-Abendkleidung nicht das Resultat einer patriarchalen Verschwörung war.
    »Und es ist vermutlich keine bloße Einladung, würde ich denken«, sagte Viktor und rieb sich die Nase. Sein Englisch war nach der Zeit in Oxford mit typisch britischen Manierismen durchsetzt – Arabesken, die in Zusammenhang mit seinem Akzent komisch klangen. »Unser Blatnoi ist auch da oben, möchte ich wetten.«
    »Warum trifft er sich ausgerechnet hier mit uns?«, fragte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
    »Ich glaube, hier verbringt er seine meisten Abende. Wir wollen ja nicht seinen Terminplan umwerfen.«
    Wir sahen weiter hinauf. Dort oben brach irgendetwas das Licht; etwas grün Phosphoreszierendes schwebte auf das Fenster zu und schnellte wieder davon.
    »Haben die – ist das da oben ein Aquarium?«, fragte ich.
    »Würde mich nicht wundern«, sagte Viktor. »Es würde mich auch nicht wundern, da eine komplette Zirkusmanege vorzufinden.«
    »Da oben servieren sie nur Sushi«, sagte Boris. »Das ist der wahre Grund, warum die Weltmeere leergefischt sind.«
    »Wart ihr schon mal in so einem Klub?«
    Sie lachten. »Nein«, sagten sie. »Aber heute ist es so weit.«
    »Und irgendwann machen wir es uns zur Gewohnheit«, sagte Viktor.
    »Wann ist irgendwann?«
    »Wenn wir reich sind«, sagte Viktor. »Wir sind Männer, also brauchen wir nicht hübsch zu sein. Nur reich.«
    »Ach ja?«, sagte ich. »Und wann genau gedenkt ihr reich zu werden?«
    »In der neuen Weltordnung, schätze ich«, sagte Boris.
    »Ich dachte, die haben wir längst«, sagte ich, weil ich fror, was mich in eine schwierige Stimmung versetzte.
    »Wenn Besetow Präsident ist, macht er uns zu seinen wichtigsten Beratern«, sagte Boris.
    »Ha. Wenn Besetow Präsident ist, kürzt er wahrscheinlich als Erstes die Bezüge der Staatsbediensteten«, sagte Viktor.
    Ich sah die beiden an. »Glaubt ihr das wirklich?«, fragte ich.
    Sie sahen mich an. »Welchen Teil davon?«, fragte Viktor.
    »Glaubt ihr ernsthaft, dass Alexander irgendwann Präsident wird?«
    »Klar«, sagte Boris. »Nicht dieses Jahr, das ist auch klar. Aber irgendwann. Denk an die Ukraine. Irgendwann ist es hier auch so weit. Und dann ist er die einzig logische Wahl, oder?«
    Viktor nickte. »Er ist immer die Stimme der Vernunft gewesen. Er ist Vaclav Havel. Nur dass er nicht der dichtende Präsident wird, sondern der schachspielende Präsident. Typisch russisch eben.«
    »Und er ist noch jung«, sagte Boris. »Einigermaßen jedenfalls. Es kann noch eine Menge passieren, wenn er nicht aufgibt. Das Leben ist groß.«
    Ich sah sie wieder beide an. Wenn man sich Alexanders Ansprachen anhörte – sein Lob auf die Vergeblichkeit, auf den Mut, gegen den Strom zu schwimmen –, konnte man denken, dass niemand ernsthaft mit seinem

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