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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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ich im Bett, vollkommen durchgefroren, und meine Lage sah weniger romantisch als kläglich aus. Ich drehte mich zur Wand, zog die Arme und Beine an mich und versuchte einzuschlafen. Es war kurz vor Weihnachten, fiel mir auf. Irgendwannin dem Monat, der hinter mir lag, war ich einunddreißig geworden.
    Von da an waren Alexander und ich so etwas wie Freunde. Oder vielleicht sollte man besser sagen, es hatte sich zwischen uns eine Spannung aufgebaut – eine Energie, die weder romantisch noch sexuell, aber doch intensiver als bloße Zuneigung war. Wir wussten beide immer, wo sich der andere im Raum befand. Wir beobachteten, wie der andere bestimmte Informationen aufnahm oder bestimmte Witze. Wir vertrauten einander plötzlich, mit unseren Morddrohungen und tödlichen Diagnosen.
    In Wirklichkeit war es natürlich einfach zu erklären: Wir waren beide, jeder auf seine Weise, vom Tod gezeichnet. Und uns war beiden, egozentrisch, wie wir waren, nie ernsthaft in den Sinn gekommen, dass auch andere sterben mussten. Und jemanden zu treffen, dem es genauso ging, war eine Erleuchtung für uns.
    Ob dieses neue Einverständnis zwischen uns dazu führte, dass ich mehr mit dem Film zu tun bekam, weiß ich nicht, würde es aber vermuten. Meine einzige Qualifikation war mein muttersprachliches Englisch, wobei Alexander durchaus schon auf weniger soliden Grundlagen Berater engagiert hatte. Boris und Viktor schien er nur deshalb aus der Masse ähnlicher junger Männer herausgefischt zu haben, weil er in ihnen eine gewisse bodenständige Zähigkeit bemerkt zu haben glaubte. Für jemanden, dem so viele den Tod wünschten, wählte Alexander seine Vertrauten ziemlich willkürlich aus – und ich fragte mich, warum. Ich fragte mich, ob er damit das Schicksal herausforderte oder es zu verleugnen versuchte. Allerdings schien er bis jetzt noch keinen Fehlgriff getan zu haben.
    Der Film, den das Alternative Russland produzierte, handelte von der Serie von Sprengstoffanschlägen in russischen Städten im Herbst 1999. Ich hatte nur sehr vage Erinnerungen an die Ereignisse selbst. Die Anschläge waren verübt worden, als ich an meiner Dissertation schrieb, und ich konnte mich noch so eben daranerinnern, die Berichterstattung gesehen zu haben, während ich die Nächte durcharbeitete. Sie fielen in Amerika in die Kategorie von Nachrichten, mit denen sich nur Spezialsender oder die Auslandsseiten der Zeitungen befassen. Nachrichtensprecher mit glänzendem Haar schüttelten missbilligend den Kopf. Sie stolperten über die Namen der Städte und setzten Gesichtsausdrücke auf, in denen sich die generelle, leicht verwirrte öffentliche Missbilligung gegenüber Sprengstoffanschlägen im Allgemeinen spiegelte, und leiteten wieder zu Geschichten über tote weiße Kinder oder lebensrettende Hunde über.
    Viktor und Boris, die ich inzwischen als Alexanders Schildknappen betrachtete, sichteten und bearbeiteten das Filmmaterial. Ich korrigierte die Grammatikfehler im Voiceover-Skript. Tagelang sahen wir wieder und wieder dieselben grauenvollen Bilder ablaufen: den schartigen, rot und schwarz schwelenden Schlund eines zerstörten Gebäudes; ein Rinnsal zerlumpter Menschen mit erschütterten, überraschten Gesichtern; die rauchenden Trümmer einer Schnellstraße. Der Film vertrat die These, dass Putin die Anschläge angeordnet oder zumindest stillschweigend gebilligt hatte, damit die verängstigte Bevölkerung ihn wählte und seinen Feldzug in Tschetschenien guthieß. Diese These wurde hauptsächlich mit zwei Tatsachen gestützt. Erstens hatte die Regierung in einer Stellungnahme ihr tiefes und aufrichtiges Bedauern über den Anschlag in Buinaksk zum Ausdruck gebracht – und zwar zwei Tage bevor dort eine Bombe detonierte. Zweitens hatte die Regierung ursprünglich bekanntgegeben, bei den Anschlägen sei der Sprengstoff Hexogen, auch genannt RDX, verwendet worden. Hexogen wurde nach Aussagen der Regierung nur in einem einzigen, streng bewachten Militärstützpunkt in Perm produziert – kein sehr wahrscheinliches Ziel fanatischer Tschetschenen, wie Boris anmerkte. Sobald die Medien von diesem merkwürdigen Zufall berichteten, zog die Regierung ihre ursprünglichen Aussagen zurück.
    In jenen ersten Wochen bei Alexander begann ich mich lebendiger zu fühlen. Ich wachte morgens in meinem satt nach Frostriechenden Zimmer auf und erlebte jeden Tag wieder die unerhörte Erleichterung, zu wissen, wo ich hinsollte. Ich wappnete mich mit drei Jacken übereinander und

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