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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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dreißig Sekunden darüber nachdachte.
    Der letzte Interviewpartner war ein lebhafter, beinahe elfengleicher älterer Herr. In der Nahaufnahme erinnerte er an einen halbverhungerten Polarfuchs. Er erzählte von etwas, das er während des Anschlags beobachtet hatte: In dem Tumult, wo jeder rannte und schrie und sich die schwelenden Kleider vom Leib riss, hatte er einen Mann gesehen, der sich an einen Baum lehnte. Er hatte gedacht, der Mann stünde unter Schock, und war auf ihn zugegangen, um ihm zu helfen. Doch im Näherkommen hatte er gesehen, dass der Mann eine Zigarette rauchte und dass seine Lippen zu einem Ausdruck verzogen waren, den man als Lächeln hätte interpretieren können. Der ältere Herr hatte sich abgewandt, um einer Frau zu helfen, die unter einer Fensterbank aus Zement feststeckte.
    Später, erzählte er der Kamera, war er über den Mann unter dem Baum ins Grübeln gekommen. Er war während der Explosion dort gewesen, während die Journalisten erst nach dreißig Minuten vor Ort waren und die Polizei nach fast einer Stunde. Er hatte einen dunklen Mantel angehabt, und das Auffälligste an ihm war seine Gleichgültigkeit gewesen.
    Das Bild des Mannes wich einem bildschirmfüllenden Blau, und Viktor schaltete den DVD-Player aus. »Das ist nicht besonders überzeugend, oder?«, sagte er.
    »Es ist bewegend«, sagte ich. »Herzzerreißend, wirklich.«
    »Das bringt uns nichts. Wir haben nichts davon, noch mehr Herzen zu zerreißen.«
    »Es ist überzeugend, wenn man überzeugt werden möchte.«
    »Das typische Kennzeichen eines schwachen Arguments.«
    Wir fuhren durch Dörfer mit feucht aussehenden Holzhäusern, und ich spürte fast die Kälte, die dort von der Decke tropfte, und die Zugluft, die durch die roh gezimmerten Wände drang. Es gab auch ein paar Andeutungen des romantischen Ostens, wie man ihn sich vorstellt, wenn man überhaupt eine Vorstellung davon hat: Die Türme der orthodoxen Kirchen, die aus winterlichen Nebelschwaden ragten, ein Gefühl der Fremdheit, das nicht nur aus dem Ortswechsel entsprang, sondern auch irgendwie aus einer Verschiebung der Zeit. Es war ein Gefühl, als reiste man nicht zurück oder in die Ferne, sondern auswärts – auswärts auf einer Art Z-Achse und in eine Märchenzeit hinein, die es nie wirklich gegeben hat. Ich muss ein wenig verträumt ausgesehen haben, denn ich bemerkte, wie Boris mich voller Abscheu anstarrte. »Du glaubst, das hier ist irgendwie romantisch, oder?«
    »Was?«
    »Genau das glaubst du. Das sehe ich doch. Du denkst, du erlebst hier ein hübsches kleines Abenteuer. Also hör mir mal gut zu. Das hier ist nicht romantisch, okay? Und es geht nicht um Abenteuer. Es geht um abgerissene Köpfe in den Nebenstraßen. Ich weiß nicht, was du hier willst, aber das ist kein Studienaustausch, okay?«
    Ich nickte. Ich war überrumpelt und ein bisschen benommen – wie in dem ersten Augenblick, nachdem man sich verbrannt oder verwundet hat, bevor der Körper den Schmerz registriert. Vielleicht konnte ich hilfreich sein, vielleicht nicht, und ich konnte verstehen, dass meine Anwesenheit für Verärgerung sorgte. Aber ich wusste sehr wohl, dass ich nicht beim Studienaustausch war. Worum auch immer es bei dieser Reise ging – es ging nicht um Fotos und Postkarten. Es ging nicht um Anekdoten, die man bei ersten Dates erzählt, um Souvenirs, die man Jahrzehnte später seinen Dinnergästen zeigt, oder um Weisheiten, die man seinen Kindern mitgibt, wenn sie eigene Wege gehen. Es ging nicht um eine Vorlage oder eine Landkarte oder eine Wissensquelle für die Zukunft, denn die würde ich mit einiger Sicherheit nie erleben.
    Aber das alles konnte ich unmöglich sagen, und es hätte auch nicht überzeugend gewirkt. Vielleicht wäre es berührend gewesen, aber das ist nicht das typische Kennzeichen eines starken Arguments – da sind sich wohl alle einig. Also schwieg ich, spitzte die Lippen und wandte mich ab, um aus dem Fenster zu sehen.
    Und dann krachten wir in den Glanz und die Herrlichkeit der Moskauer Innenstadt bei Nacht. Überall waren schöne Frauen, mit grellem Make-up und nicht viel anderem angetan, die vor pulsierenden Nachtklubs Schlange standen. Sie sahen beängstigend aus und außerdem so, als sei ihnen furchtbar kalt. Ich starrte sie an. Die Frauen warfen ihr Haar zurück. Ihre silbernen High Heels streuten Licht auf die Gehsteige. Gewaltige IKEA-Werbeschilder dominierten die Skyline. Wir kamen am Puschkin-Theater vorbei, das im Laternenlicht glomm

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