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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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die Kiste zwischen uns ab. Er öffnete sie, und zum Vorschein kam ein großer Haufen Zettel. Es müssen Hunderte gewesen sein – manche abgegriffen und vergilbt, andere frisch und weiß, wieder andere aus schwerem, cremefarbenem Papier, wie man es nur für besonders wichtige Geschäftskorrespondenz verwendet. Manche Zettel trugen handschriftliche Notizen – Kratzspuren aus verblichenem Graphit; dicke Tintenschwünge, die an den Enden verschwammen und verschmierten; die labyrinthischen Kringel kyrillischer Schreibschrift, die für ungeübte Leser kaum zu entziffern sind –, und andere waren bedruckt. Einzelne waren sogar unheilverkündend aus Wörtern zusammengesetzt, die jemand aus der Zeitung ausgeschnitten hatte.
    »Was ist das alles?«
    »Morddrohungen«, sagte er. »Alle an mich.«
    »Oh.« Ich sah ihn an. Ich begriff, dass er nicht erreichen wollte, dass ich mich besser fühlte – oder auch schlechter –, sondern nureine Erfahrung mit mir teilen wollte, die wir gemeinsam hatten. Es war ein wortkarger Austausch von Erinnerungen zwischen zwei Veteranen eines aussichtslosen Krieges. Es war die Anerkennung der unausweichlichsten, schrecklichsten Tatsache unseres Daseins – nicht der einzigen, aber derjenigen, die jeder andere zu ignorieren versucht. »Darf ich?«, fragte ich.
    »Bitte«, sagte er. »Nur zu.« Ich begann, einzelne Zettel herauszugreifen. Ich lauere dir nachts auf und reiße dir die Eier ab , stand auf einem davon. Sie sind eine Schande für Ihr Land und Ihr Volk , stand auf einem anderen. Einige waren subtil – mit Andeutungen über Menschen und Orte, die Alexander besser meiden sollte –, und andere beschrieben explizit, bis ins letzte grausige Detail, wie Alexander getötet werden sollte. Manche wirkten amateurhaft und wirr, als hätten geistig labile Männer mit verfilzten Bärten sie bei Kerzenlicht verfasst. Andere sahen professionell und zielgerichtet aus und ließen auf ganz andere Absender schließen: Menschen in schwarzen Anzügen, die alle nötigen Mittel besaßen, um ihre Drohungen in die Tat umzusetzen. Menschen, die ernst meinten, was sie schrieben.
    »Unglaublich«, sagte ich, denn das war es wirklich. Und dann fragte ich: »Hast du Angst?«
    Er nickte zu schnell, und ich fragte mich, ob er genau wie ich nur darauf gewartet hatte, dass einmal jemand fragte.
    »O ja«, sagte er. »Die habe ich allerdings.« Mit einer Sorgfalt, die an Zärtlichkeit grenzte, faltete er die Blätter wieder zusammen und packte sie in die Kiste zurück. »Aber Angst ist nicht gleich Angst, oder?«
    »Wie meinst du das?«
    »Na ja, wir haben beide Angst. Aber deine Angst ist befreiend. Meine ist einengend. Deine hat dich hergeführt. Meine hält mich in dieser Wohnung fest.«
    »Es ist eine schöne Wohnung.«
    Er kniff die Augen zusammen. »Ja. Eine sehr schöne Wohnung.«
    »Du gehst doch zu deinen Kundgebungen. Oder auf Reisen. Du gehst große Risiken ein.«
    »Ich fliege nicht. Ich esse nie auswärts. Dafür spreche ich dauernd mit der Westpresse, und was denkst du, warum? Nicht, weil ich Larry Kings Show bereichern will, kann ich dir versichern. Sondern wenn ich im Westen bekannt genug bin, werden unangenehme Fragen gestellt, wenn mir etwas passiert.«
    »Das ist vernünftig. Wirklich vernünftig.«
    »Und du?«
    »Und ich was?«
    »Wem sollen wir es sagen, wenn dir etwas passiert? Hattest du zu Hause jemanden?«
    Ich sah ihn an. Mir wurde klar, was er mich da fragte. »Wäre ich dann weggefahren?«
    »Ja«, sagte er und nickte nachdenklich. »Ich glaube allmählich, das wärst du.«
    An jenem Abend ging ein ganz unwinterlicher Regen nieder: Mild und schlammig stürzten gewaltige Wassermassen vom Himmel herab. Ich nahm meine Mütze ab und dann meinen Mantel, und dann, als ich in die Straße mit meinem Hostel eingebogen war, zog ich mir die Schuhe aus. Vielleicht würde ich mir Hepatitis einfangen. Oder eine Lungenentzündung. Einen Moment lang konnte ich es so sehen wie Alexander: Ich sah die Schönheit, das verrückte, eigenartige Glück, das darin lag, allein und unbeachtet und barfuß irgendwo draußen in der weiten Welt zu sein. Vielleicht war es ein Segen, irgendwie. Es war wie der freie Fall von jemandem, dessen Fallschirm nicht funktioniert: Wer weiß, was er auf seinem Weg nach unten erlebt, wenn die Sonne in einem ganz bestimmten Winkel die Landschaft streift, wenn er die Hände nach den Wolken ausstreckt. Wer weiß, was er in dieser jenseitigen Schwerelosigkeit alles lernt.
    Aber dann lag

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