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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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langer Unterwäsche, dann packte ich eine Tagesration Texte, Korrekturbögen und Pressemitteilungen ein. Ich rutschte über den vom Nachtwind leicht angenagten Schnee. In der Unterführung vor der Metrostation Wassiljewski-Insel stolperte ich über die Händler, die ihre Stände mit DVDs, Pornoheften und Souvernir-Nippes bestückten. Bis die Metro kam, beobachtete ich die klammen Hunde und ihre Besitzer mit den vom Ketamin ausdruckslosen Augen. Manchmal war es noch dunkel, wenn ich vor Alexanders Haus ankam, und manchmal wartete ich dann, starrte in den Himmel und bewunderte die reine Brutalität der Sterne. Manchmal dachte ich an Jonathan. Manchmal dachte ich an meinen Vater. Manchmal dachte ich an Alexanders Morddrohungen und daran, wie er die Antwort auf die Fragen meines Vaters lebte. Am häufigsten kreisten meine Gedanken um mich selbst: darum, wie dankbar ich für ein paar mehr wache Augenblicke war und für eine Aufgabe, die diese Augenblicke erfüllte.
    Wenige Tage vor Boris’ und Viktors Abreise nach Moskau wurde in der Wohnung eine Sitzung einberufen, um die jüngsten politischen Skandale zu besprechen. Einer von Alexanders Konkurrenten, ein Oppositionskandidat mit einem etwas nationalistischeren Programm, als Alexander es vertrat, war kürzlich verschwunden. Seine Mitarbeiter hatten nicht gewusst, wo er war. Seine Frau hatte nicht gewusst, wo er war. Nach einer Woche war er wieder aufgetaucht, mit einer großen Sonnenbrille, auf seine Leibwächter gestützt, und hatte sofort eine defensive Pressekonferenz abgehalten. »Was ist?«, hatte er gesagt. »Kann man nicht mal eine Woche unterwegs sein? Habe ich nicht das Recht auf ein bisschen Urlaub, ein bisschen Privatsphäre?« Seine Frau hatte ihn sofort verlassen. Es gingen Gerüchte, dass der FSB ihn nach Kiew verschleppt und ihm psychotrope Substanzen eingeflößt hatte, bis er jedes letztebisschen Schmutz und strategische Informationen von sich gab, und ihn dann kotzend, torkelnd und ohne jede Erinnerung an das Geschehene in einer anonymen schwarzen Limousine wieder nach Hause verfrachtet hatte. Dann war da der Menschenrechtsanwalt, der erst vor wenigen Tagen in Moskau auf offener Straße erschossen worden war. Er hatte versucht, die angebliche Vergewaltigung einer Tschetschenin durch einen russischen Soldaten aufzuklären. Er war am hellichten Tag auf der Straße gestorben, und hinterher hatte niemand etwas gesehen. Außerdem war da die Geschichte eines der reichsten Oligarchen Russlands – eines Mannes, der mit Öl ein Vermögen gemacht hatte, dann aber bei der Regierung in Ungnade gefallen war, als er etwas zu vorlaut gegen die grassierende Korruption gewettert hatte. Man erzählte sich, er stünde ganz oben auf der Verhaftungsliste, und sofort kaufte er auf dem internationalen Kunstmarkt sämtliche Fabergé-Eier aus der Sammlung Nikolaus II. auf, um sie wieder in russischen Besitz zu übergeben. »Für meine Heimat«, hatte er mit verklärten Augen vor den Kameras gesagt.
    »Alles läuft bestens in diesem Land«, sagte Boris. Alle schwiegen. Ich malte einen Rand um meine Notizen.
    »Also«, sagte Alexander. »Ihr Jungs freut euch hoffentlich auf Moskau? Ihr fahrt mit dem Auto.«
    »Gut«, sagte Viktor.
    »Und nehmt die Kreditkarte mit.«
    »Klar.«
    »Und ihr übernachtet natürlich im Moskowsko. Auf keinen Fall im Rossija, da vergiften sie euch nur das Frühstück.«
    »Okay«, sagte Viktor. »Ist klar.«
    Auf Alexanders Gesicht machte sich ein schelmischer Ausdruck breit, als hätte er uns allen einen großartigen Streich gespielt, den wir im nächsten Moment bemerken würden. Er nickte in meine Richtung. »Und Irina fährt natürlich auch mit.«
    »Was?«, sagte ich.
    »Was?«, sagte Boris. Er zog die Kappe von seinem Kugelschreiber,und ich fürchtete einen Moment lang, er wollte jemanden damit erstechen.
    »Ihr nehmt sie mit.«
    Viktor grinste, und Boris stand der Mund offen.
    »Ach ja?«, sagte Viktor. »Spricht sie überhaupt Russisch?«
    »Spricht sie überhaupt?«
    »Njet«, sagte ich in einem Versuch, witzig zu sein.
    »Sie kann für euch Notizen machen.«
    »Wir können selbst Notizen machen«, sagte Viktor. »Wir sind funktionale Alphabeten, falls dir das entgangen ist.«
    »Ihr zwei seid so hölzern, und ihr seid Kindsköpfe«, sagte Alexander. »Es kann nicht schaden, eine harmlos aussehende Frau dabeizuhaben – entschuldige, Irina. Dann fühlen die Leute sich wohler. Dann erzählt der Soldat mehr von sich.«
    »Nein«, sagte Viktor.

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