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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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haben sie gedacht, mein Tod könnte auffallen.«
    »Auffallen? Alexander, wann hat es sie je interessiert, was irgendwem auffällt? Vielleicht beschützt dich das heutzutage – dein Ruhm, wenn man es so nennen will. Vielleicht hält es sie jetzt davon ab, zu plump vorzugehen und die westlichen Intellektuellengegen sich aufzubringen. Aber damals? Nein, mein Freund. Ich glaube nicht, dass das der Grund war.«
    Alexander dachte an die Nacht zurück, in der Nikolai in sein Zimmer gestürzt war, die entsetzten Augen tiefgerändert, mit zitternden Händen, als hätte ihn der Rückstoß eines Gewehrs getroffen. Da hätte Alexander es wissen müssen. Natürlich hätte er es wissen müssen.
    »Ich weiß nicht«, sagte Alexander. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht. Wahrscheinlich hätte es besser mich treffen sollen.«
    »Immerhin darin sind wir uns einig.«
    Sie schwiegen eine Weile. In seinen finstersten Nächten wollte Alexander tatsächlich manchmal nichts einfallen, was Iwan nicht auch getan und besser gemacht hätte als er, wenn er noch lebte. Egal, wie berühmt und mächtig und beliebt er war, egal, wie die Westpresse ihn verehrte, egal, wie hässlich und verrückt Mischa wurde, wie stigmatisiert seine Vereinigung war – nichts würde etwas daran ändern, dass Mischa etwas Entscheidendes über ihn wusste. Er wusste, dass sie mit Iwan den besseren Menschen getötet hatten.
    »Jedenfalls«, sagte Alexander, »bleibt es dabei, dass ich euch nicht an dem Film beteiligen kann. Es tut mir leid, Mischa.«
    »Ja«, sagte Mischa mit einem jungenhaften Grinsen. »Ja, ich denke, das wird es.«
    Mischa ging, und als er die Tür öffnete, hörte Alexander das An- und Abschwellen flirtender, spielerisch streitender Stimmen. Er erhaschte einen Blick auf Nina, der Strähnen ihres roten Haars über den Rücken wogten. Sie hatte ihren Arm auf den Arm eines rebellischen Wirtschaftswissenschaftlers gelegt und warf amüsiert den Kopf zurück. Mischa schloss die Tür hinter sich.
    Im dunklen Zimmer ging Alexander zum Fenster zurück und lehnte die Stirn an das kühle Glas. Durch die Tür konnte er den Countdown hören, die Jubelrufe, das Ploppen und Zischen des Champagners, der geöffnet und eingeschenkt wurde. Er hob sein Glas und trank auf das Jahr 2007.Ende Januar war Alexander eingeladen, in einer Universitätsbibliothek Bücher und Schachbretter zu signieren. »Ein bisschen klein, findest du nicht?«, hatte er gesagt, als er die Beschreibung des Veranstaltungsortes durchlas. Nina hatte die Augenbrauen gehoben und gefragt, ob er auf die Gelegenheit verzichten wollte, mit einer Gruppe gleichgesinnter junger Leute zu sprechen, bloß weil der Saal zu klein war. Dann hatte sie die Augen verdreht und mit den Fingern auf den Schreibtisch getrommelt, und er hatte fast hören können, wie sie sich fragte, für wen oder was er sich neuerdings hielt – obwohl er nicht ganz begriff, seit wann sie eigentlich die Anwältin des Volkes war. Also war er hingegangen und hatte am Pult gestanden und zugesehen, wie die Sicherheitsleute an der Tür Pässe kontrollierten und Besucher nach Waffen abtasteten. Vlad und die anderen hatten sich reglos und massiv wie griechische Säulen neben den Türen postiert. Als ein träges Häufchen Studenten eingetrudelt und als Alexander sicher war, dass niemand mehr kommen würde, obwohl der Saal erst halbvoll war, setzte er seine Brille auf, holte seine Notizen hervor und begann zu sprechen.
    Von dem Podium aus konnte er im Publikum Textnachrichten aufleuchten sehen. In den hinteren Reihen reichten sich zwei struwwelhaarige Männer ein Kreuzworträtsel hin und her; ganz vorn flüsterten ein junger Mann und eine junge Frau einander hörbar wütende Worte zu.
    Alexander versuchte es trotzdem. Er wollte ihnen die Vorzüge der Demokratie nahebringen und die Gefahren der Untätigkeit. »In diesem Land«, sagte er, »werden die Profite privatisiert, und die Kosten werden sozialisiert.«
    Überall im Saal sah er gelangweilte Blicke und hörte Knöchel knacken. Ein Mann in der ersten Reihe sah mit leuchtenden, unübersehbaren Augen zu ihm auf. Er beugte sich vor und schien sich Notizen zu machen. Alexander beschloss, den Rest seiner Rede an diesen jungen Mann zu adressieren.
    »Putin«, tönte Alexander, »treibt keine fehlgeleitete Ideologie.Ihn treibt das Geld, der Selbsterhaltungstrieb, die Gleichgültigkeit – was genauso gefährlich sein kann wie eine Weltanschauung.«
    Vom Publikum war unterdrücktes Gähnen zu hören.

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