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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Sichtfelds durch die Eingangstür, außerhalb der Schusslinie – und begrüßte seine Gäste. Die meisten waren Freunde und deren Freunde und enge Mitarbeiter, aber ein paar entferntere Bekannte waren auch dabei. Alexander duckte sich hinter einen Wäscheschrank und tat,als suchte er nach Stoffservietten, als er Mischa hereinkommen sah. In den letzten Jahren hatte Alexander es möglichst vermieden, mit Mischa allein in einem Raum zu sein. Das Wahre Russland war mit der Zeit nur noch schriller geworden; Mischa duldete immer armseligere Gestalten in seinem Umfeld, und Alexander bemühte sich, so wenig wie möglich mit ihnen zu tun zu haben. Alexander hatte sogar Vlad gebeten, die Fanatiker von ihm fernzuhalten, damit er nicht mit ihnen reden musste, aber Vlad hatte gesagt, das sei nicht seine Aufgabe.
    Jedenfalls musste Alexander zugeben, dass Nina alles bestens organisiert hatte. Die Lichter waren heruntergedimmt, die Tische waren mit Arrangements aus einer blassen winterlichen Blume geschmückt, und auf den Fensterbrettern standen winzige Teelichter aufgereiht. Draußen war das blinkende, freudetaumelnde St. Petersburg, in silvesterlichen Glanz gehüllt, von den diamantenen Fenstern ihrer fünfzehntausend heruntergekommenen Herrenhäuser erleuchtet. In einer Ecke stand Irina mit einem Glas Weißwein und redete mit Viktor und Boris, die ihre Anwesenheit seit der Rückkehr aus Moskau besser zu ertragen schienen. Um halb zwölf machten Bedienstete mit gekühlten Champagnerflaschen die Runde. Alexander trank selten, und wenn, dann meistens allein. Alkohol war ein zu leichtes Angriffsziel; man konnte nur schwer etwas Bitteres herausschmecken, und eine beginnende Vergiftung war leicht mit Trunkenheit zu verwechseln. Aber heute war Silvester, und Alexander fühlte sich ein klein wenig verwegen – es war keine feierliche Stimmung im engeren Sinn, aber die Art gedämpfte, bittersüße Zärtlichkeit, die einen dazu bewegt, allein durch dunkle Räume zu streifen und auf die wunderschöne nächtliche Stadt hinauszusehen. Also griff er sich ein Glas Champagner und ging ins Arbeitszimmer. Vor dem Fenster sah er die leuchtenden Zwiebelkuppeln, die kantigen Bürogebäude, die indigoblaue Falte des Himmels, die neonbunten Lichter der Klubs. Aus dem Wohnzimmer waren der Triller eines Frauenlachens zu hören und das raue Arpeggio eines Mannes, der eine Anekdote erzählte. Alexandergefiel es, diese Geräusche in seiner Wohnung zu hören, aber es gefiel ihm auch, von ihnen fort und in ein leeres Zimmer zu gehen.
    Irina und die Jungs waren Anfang der Woche aus Moskau zurückgekehrt, und er hatte mit einem kindischen Gefühl des Neids zugehört, als sie erzählten, wie sie durch die Straßen gefahren waren, den Frauen zugesehen und das kapitalistisch vitale Arbat bestaunt hatten, auch wenn sie dort selbst nicht einkaufen konnten. Es hatte Schwierigkeiten gegeben – Hotels, die wussten, wer sie waren, hatten sie nicht beherbergen und Restaurants sie nicht bewirten wollen –, aber eine gewisse Anonymität hatte sie beschützt, und sie waren nur aufgehalten worden, wenn Gerüchte ihnen vorauseilten. Sie hatten unbehelligt in Museen gehen können; sie hatten vom Auto aus das großartige Moskauer Nachtleben miterlebt.
    Alexander fröstelte. Draußen flackerte verfrühtes Feuerwerk in eisigem Silber vor dem blauen Himmel; das Licht der Sterne strich über den Fluss und glitzerte wie die Augen von Tieren in einem dunklen Wald.
    Manchmal fragte er sich, so ungern er es zugab, wie sein Ende aussehen würde. Er hoffte – wenn er überhaupt hoffte –, dass es ein Schuss sein würde oder ein Sturz aus einem hohen Gebäude. Vor Vergiftungen fürchtete er sich am meisten, obwohl ambitionierte Giftattentate teuer waren – mit Polonium zum Beispiel, das nicht konkret zurückverfolgt werden konnte, zu dem es kein Gegenmittel gab (im Gegensatz zu Thallium, einer billigeren Alternative, der man mit einer Dosis Preußischblau entgegenwirken konnte), waren es zwei oder drei Millionen Dollar in bar für eine tödliche Dosis. Also hatte er zumindest die Finanzen auf seiner Seite.
    Alexander hatte ohnehin die durchschnittliche männliche Lebenserwartung seines Landes erreicht, und manchmal fragte er sich, ob es nicht ein bisschen anmaßend, ein bisschen elitär war, mehr Zeit zu wollen. Bei seinen Reisen über Land hatte er ganzeDörfer gesehen – die Überreste staatlich finanzierter Agrarkooperativen –, die fast nur von Trinkern, Sterbenden und

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