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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Behinderten bevölkert waren, wo die Jungen in die Städte flohen, die Scheunen ungestrichen blieben, das Gemüse reihenweise verfaulte und die Alten ihre Herzinfarkte mit Unmengen stinkendem selbstgebranntem Fusel behandelten. Wie konnte Alexander sich anmaßen, leben zu wollen, wenn andere so lebten?
    Als ein Finger ihn an der Schulter berührte, wäre Alexander fast aus dem Fenster gesprungen.
    »Du bist aber schreckhaft«, sagte eine Stimme.
    Alexander drehte sich um. Mischa hatte den Kopf auf die Seite gelegt, und sein Hemd hing über der Anzughose. Er hielt mit zwei Fingern ein Glas Wodka und ließ es sich so weit zur Seite neigen, dass Alexander sicher war, dass es herunterfallen und den Teppich beflecken würde.
    »Mischa. Wie geht es dir?« Alexander streckte ihm die Hand hin, obwohl er Mischa nur ungern berührte. Die Jahre hatten es nicht gut mit ihm gemeint – da war noch immer diese kränkliche Ausstrahlung, dies Gefühl, dass seine Gesichtskonturen das Licht unnatürlich reflektierten, allen physikalischen Gesetzen zuwider.
    »Wie es mir geht?« Mischa feixte. Er gab Alexander nicht die Hand.
    »Genau, Michail. Das ist eine höfliche Frage. Höfliche Menschen fragen einander so etwas.« Alexander fragte sich, wie Mischa zu einer Einladung gekommen war. Nina musste eine ältere Liste benutzt haben.
    »Na gut, wenn höfliche Menschen so etwas sagen. Danke, dass du einem Bauern Manieren beibringst.«
    Alexander starrte ihn an. Als Mischa aus der Psichuschka zurückgekehrt war, hatte Alexander erst üben müssen, ihn anzusehen – er hatte sich zwingen müssen, Mischas Blick standzuhalten und ihn direkt anzusprechen. Damals hatte Mischa furchteinflößend gewirkt; er war ein monströser Anti-Prophet, und seine Botschaft war so grauenhaft wie sein Gesicht. Jetzt kam er Alexanderbloß noch reduziert vor. Er war nicht hässlicher oder paranoider als die meisten. »Was willst du jetzt wieder?«, fragte Alexander.
    »Warum denkst du, ich wollte irgendwas? Warum sollte ich nicht einfach meinem alten Freund hallo sagen wollen?«
    »Wir sind nie Freunde gewesen.«
    »Dagegen kann ich wohl nichts sagen.« Mischa ließ seine Hand über Alexanders Schreibtisch gleiten. Trapeze aus künstlichem Licht fielen durch das Panoramafenster und kreiselten über den Teppichboden. In der Ferne konnte Alexander das Schmettern verfrühter Partytröten hören. »Wenn ich so drüber nachdenke, will ich tatsächlich etwas, Alexander. Jetzt, da du es sagst.«
    »Ja?«
    »Ihr macht einen Film, habe ich gehört.«
    »Das ist kein Geheimnis.«
    »Ich möchte, dass das Wahre Russland mit beteiligt wird.«
    »Beteiligt?« Alexander lachte ein strategisches, freudloses Lachen. Er fragte sich, ob jemals jemand unabsichtlich so lachte.
    »Assoziiert. Ich will, dass wir damit assoziiert werden. Ich finde, der Film klingt nach einer wirklich guten Idee.«
    »Das weiß ich zu schätzen, Mischa.«
    »Und?«
    »Muss ich erst betonen, dass ihr überhaupt nichts für uns getan habt?«
    »An uns hat es nicht gelegen. Ihr ladet uns weder zu euren Kundgebungen ein noch zu euren kleinen Konferenzen. Ich weiß, dass wir euch peinlich sind.« Er kramte eine Zigarette aus seiner Hosentasche hervor und zündete sie an.
    »Würdest du die bitte ausmachen?«
    »Rauchst du nicht mehr?«
    Alexander wand sich. »Nina mag das nicht.«
    »Na so was! Der Erlöser aller Slawen raucht nicht mehr, weil seine Frau es verboten hat.«
    »Also wirklich, Mischa.«
    Mischa kniff die Augen zusammen, dann paffte er. »In all denJahren«, sagte er, »bei all euren Foren, euren Versammlungen, euren ganzseitigen Zeitungsanzeigen habt ihr uns nie mit einbezogen. Es wird Zeit für ein bisschen Kooperation.«
    »Kooperation? Red keinen Blödsinn, Mischa. Ich muss glaubwürdig bleiben. Und das Wahre Russland ist … nicht glaubwürdig, sagen wir mal so. Lassen wir es dabei.«
    »Und ihr?«
    Alexander sah wieder aus dem Fenster. In ganz Petersburg öffneten die Leute Sektflaschen und pirschten sich an den Menschen heran, den sie um Mitternacht am liebsten küssen wollten. Und er stand hier mit diesem gelbsüchtigen, faltigen, vorwurfsvollen Kampfhahn. Alexander schloss die Augen. »Mischa«, sagte er und machte sich darauf gefasst, lächerlich zu klingen. »Es liegt nicht an dir, weißt du, du bist nicht gemeint. Aber einige von deinen Leuten sind ein bisschen neben der Spur. Von wegen ›Russland den Russen‹ und so.«
    »Das ist nur ein Slogan.«
    »Nur ein Slogan? Ein Viertel

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