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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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der Bevölkerung hält ihn für faschistisch.«
    Mischa sog wieder an der Zigarette, und Alexander konnte seinen mühevollen, stockenden Atem hören. »Willst du jetzt Politik nach Umfragewerten machen? Weißt du, wie es dann hier aussehen würde?«
    »Es ist eine sträflich fremdenfeindliche Haltung. In ihrem Namen werden Leute umgebracht.«
    »Beschuldigst du uns jetzt, Mörder zu sein?«
    »Werd doch nicht hysterisch. Ich beschuldige euch, dämlich zu sein. Und schlechtes Marketing zu betreiben. Mit meinem Film sollt ihr nichts zu tun haben.«
    Mischa nahm den nächsten nachdenklichen Zug und setzte einen übertrieben beeindruckten Gesichtsausdruck auf. Er sah auf den Teppich hinunter und starrte aus dem Fenster. Er pfiff bewundernd durch die Zähne. »Eine tolle Wohnung hast du. Habe ich das überhaupt schon gesagt?«
    Alexander schwieg. Es gab keine passende Antwort.
    »Ganz schöner Kontrast zu deiner alten Bruchbude, wie? Schon erstaunlich, oder, Alexander? Wie weit du gekommen bist?«
    Alexander nahm einen Schluck Champagner.
    »Wo kommst du noch mal her? Wo deine Schwester noch lebt? Irkutsk, oder?«
    »Aus Ocha. Sachalin.«
    »Richtig. Stimmt ja. Sachalin.« Mischa schwieg einen Moment und strich mit der Fußspitze über den Teppich. Schmutzkrümel rieselten von seinem Schuh, und er trat sie fest. »Ich finde«, sagte er, »das bist du mir schuldig.«
    »Schuldig? Was bin ich dir schuldig? Wofür?«
    Mischa zog die Augenbrauen hoch. »Du weißt doch sicher noch, dass ich weiß, was mit Iwan passiert ist.«
    Alexander starrte ihn an. »Was weißt du, was mit Iwan passiert ist?«
    »Es wundert mich, dass du das vergessen haben willst. Ich weiß, dass du ihn hast sterben lassen.«
    Alexander dachte an Iwan – wie schmerzhaft dünn er war, wie er sich beim Gehen dem Schnee entgegenstemmte, wie sehr er daran glaubte, immer davonkommen zu können. Rückblickend konnte Alexander sehen, wie verletzlich Iwan gewesen war, obwohl er damals so unbesiegbar erschien. Er schien derjenige zu sein, der die Zeichen erkannte und wusste, wofür sie standen; er schien die Realität zu erahnen, die unterhalb der Fiktionen verlief wie eine Wasserader unter einer Stadt. Aber wenn Iwan schon fragil war, dann konnte Alexander kaum aufrecht stehen – er sah im Rückblick, wie naiv, wie erschütternd angreifbar er gewesen war. Er hatte Iwan nicht sterben lassen. Sein halbes Leben hatte er damit zugebracht, darüber nachzudenken, und jetzt war er sich sicher. Man konnte etwas nur geschehen lassen, wenn man wusste, was auf einen zukam; man konnte etwas nur geschehen lassen, wenn man wusste, wie man es verhindern konnte.
    »Das habe ich nicht«, sagte Alexander.
    »Natürlich hast du. So muss es gewesen sein. Meinst du, sie hätten ihn erwischt und dich nicht? Meinst du, sie hätten dich ohne Grund all die Jahre in Ruhe gelassen? Es ist nicht so, dass Nikolai nicht gewusst hätte, wo du wohnst – sogar bevor du deren liebstes nationales Schachwunderkind geworden bist und draußen im Wald residiert hast. Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, du hast ihnen einen Gefallen getan. Ich glaube, du hast Kompromisse gemacht. Noch vor den vielen anderen Kompromissen. Ich habe lange gebraucht, um es mir zusammenzureimen, aber jetzt weiß ich es.« Mischa ließ ein seltsam gutmütiges Lächeln sehen. »Und deshalb denke ich jetzt, dass du mir etwas schuldig bist.«
    Alexander atmete tief durch. »Ich weiß nicht, Mischa«, sagte er. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe viel darüber nachgedacht. Ich weiß nicht, warum sie Iwan erledigt haben und mich nicht. Wahrscheinlich war ich nicht wichtig genug, um sich mit mir abzugeben. Ich war nur im Vertrieb. Wahrscheinlich haben sie es versucht und mich verfehlt und beschlossen, das sei Warnung genug gewesen.«
    Mischa sah ihn mit einem befremdlichen Ausdruck an. »Nein. Ich bin sicher, dass sie dich nicht verfolgt und verfehlt haben.«
    »Oder vielleicht war ich zu wichtig«, sagte Alexander. Er hörte, wie flehentlich er zu klingen begann. »Vielleicht hat es mich beschützt, dass ich relativ bekannt war. Und mit meinem Schachtalent war ich ein nationales Aushängeschild. Das haben damals alle gesagt. Vielleicht wollten sie mich deshalb nicht verlieren. Vielleicht wussten sie damals schon, dass sie mich protegieren würden. Und ja, du hast recht, vielleicht wussten sie auch damals schon, dass ich es zulassen würde. Es gab keinen expliziten Kompromiss, Mischa. Wirklich nicht. Aber vielleicht

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