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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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ein paar Wochen später. »Wir müssen etwas ganz anderes machen.«
    Irina, Viktor und Boris saßen mit ihm am Tisch. Boris hielt eine Fernbedienung in der Hand und schaltete zwanghaft zwischen Rossija, NTW und Kanal 1 hin und her. Irina starrte vor sich hin und ließ eine Kopeke zwischen ihren Fingern kreisen. Sie schien in letzter Zeit ein wenig nachzulassen: Ihre Haut wurde beinahe durchscheinend blass, und ihr Blick verhärtete sich zu einem grimmigen, stumpfen Ausdruck, der Alexander an die sepiabraunen Fotos sibirischer Mütter im Kopftuch mit ihrem halben Dutzend noch lebender Kinder denken ließ. Er fragte sich, ob es eine Folge gesundheitlicher Probleme war, eine Folge der Einsamkeit oder des endlosen russischen Winters – der unerträglichen Kombination von Kälte und Dunkelheit und den ständigen Angriffen von Salz und Sand.
    »Nur weil du ein Mal ein Schachbrett abbekommen hast«, sagte Viktor.
    »Es geht hier nicht um das Schachbrett«, sagte Alexander. »Boris, könntest du den Fernseher ausschalten? Irina, könntest du damit aufhören?« Sie sah ihn düster an und steckte die Kopeke weg. Alexander fühlte sich in letzter Zeit zunehmend unwohl in ihrerGegenwart, und nicht nur deshalb, weil ihre Haltung und ihr Aussehen ihn an den nahen Tod erinnerten, an den er ohnehin schon bis zur Erschöpfung dachte. Noch mehr als das bedrückte ihn, wie wenig er sich in der Lage sah, ihre Fragen zu beantworten. Er war alle seine Briefe, Kalender und Notizen aus der Zeit durchgegangen, und Irinas Vater war nirgendwo aufgetaucht – er war ein Geist, der seine Ausgaben der Kleinen Auswahl aussichtsloser Fälle heimsuchte (die brüchig geworden waren wie trockenes Laub) und durch Alexanders alberne, wirre Gedichte an Elisabeta spukte (die noch genauso banal klangen wie damals). Alexander wollte Irina unbedingt etwas von ihrem Vater geben – irgendein Zeichen, einen Segen. Aber was sollte er sagen, wenn er nichts zu sagen hatte? Der Mann hatte ihm angeblich einen Brief geschrieben. Das wusste Irina schon selbst.
    Und dann gab es noch die gewichtigere Frage – die Frage, was man tun soll, wie man weiterspielt, wenn man weiß, dass man verloren ist. Irina hatte bei ihrer Ankunft in St. Petersburg vermutlich nicht geahnt, wie sehr seine gesamte Existenz zu einer Antwort auf eben diese Frage geworden war. Aber es war keine befriedigende Antwort, und Alexander fühlte, wie enttäuscht Irina war, und das verletzte ihn. Was tut man also angesichts der unausweichlichen Niederlage? Man dreht einen kleinen Film, trifft vernünftige Sicherheitsvorkehrungen und versucht sich an seinem Espresso, seiner frigiden Ehefrau, seinem Frühstück zu erfreuen. Ist das etwa inspirierend? Ist es nobel? Man putzt sich die gottverdammten Zähne. Das, dachte Alexander, wusste Irina ebenfalls schon selbst.
    Viktor grinste und ließ seine Fingerknöchel knacken. »Vielleicht hat es doch ein bisschen mit dem Schachbrett zu tun.«
    Alexander befühlte seine Beule. Sie heilte erstaunlich langsam; wenn er in einer seiner immer häufigeren schlaflosen Nächte den Kopf hin und her warf, schmerzte sie so sehr, dass er vor sich hin fluchte, bis Nina ihn vorwurfsvoll ansah und mit ihrer Decke ins Wohnzimmer umzog.
    »Vielleicht«, sagte er. »Vielleicht hat es teilweise mit dem Schachbrettzu tun. Aber das Schachbrett steht für ein grundlegenderes Problem, meint ihr nicht?«
    »Du bist doch zufrieden mit den Kundgebungen, oder? Sie sind doch gut besucht, oder?«, sagte Boris. »Es war nur ein einziger Vorfall.«
    »Ja, ja, die Kundgebungen«, sagte Alexander. Er kratzte sich wieder am Kopf. Natürlich war die Signierstunde eine Ausnahme gewesen, ein Ausrutscher, der viel mit schlechtem Marketing zu tun gehabt hatte. Normalerweise waren die Teilnehmerzahlen bei seinen Veranstaltungen ansehnlich, wenn auch nicht überwältigend; er wusste, dass sich die Leute für ihn interessierten, aber dieses Interesse hatte noch längst nicht die kritische Schwelle überschritten, den Punkt, an dem es von allein exponentiell weiterstieg. Aber sie kamen. Sie kamen auch, wenn Putin Alexander gerade persönlich beschuldigt hatte, eine Marionette der Amerikaner zu sein; sie kamen und brachten Transparente mit der Aufschrift Wir sind die fünfte Kolonne des Westens mit. Sie kamen auch bei Kälte, was Alexander besonders beeindruckte, wenn er an seinen unwahrscheinlich bitteren ersten Winter in St. Petersburg dachte, als er noch nicht in der Lage gewesen war, sich von der

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