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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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nach Hause folgen, die Schatten in den Ecken würden Schatten bleiben, die lauten Geräusche wären immer Fehlzündungen von Motorrädern und die Kopfverletzungen immer ungefährlich und fast ein bisschen zum Lachen. Und ich konnte glauben, die Testergebnisse seien vielleicht falsch, die Zahlenkolonnen auf einem zehn Jahre alten Stück Papier hätten nichts mit meinem wirklichen Verstand, meinem realen Erinnerungsvermögen zu tun, die Prophezeiung sei fehlgedeutet oder umkehrbar. Ich konnte mir einbilden, wenn ich sowieso schon zu statistischen Anomalien neigte, konnte ich vielleicht auch das statistisch Unmögliche erreichen. Ich konnte mir Zeitungsartikel über den einzigen bekannten Überlebenden voll ausgeprägter Tollwut ausschneiden (mit künstlich induziertem Koma und Steroiden) oder Zeitungsartikel über die Wiederbelebung eines klinisch Toten. Eigentlich glaubte ich nicht an Wunder. Aber irgendwie fühlt essich nicht wie ein Wunder an, einfach weiterexistieren zu dürfen. Es ist die Alternative dazu, die jeder Logik widerspricht, die jeden Glauben zerstört.
    »Sie werden dich töten«, sagte ich.
    »Das hat er bestimmt nicht gesagt.«
    »Er hat in einem ziemlich beängstigenden Tonfall über ›Unfälle‹ schwadroniert.«
    Alexander nickte geistesabwesend, als hielte ich ihm stundenlange Vorträge über irgendwelche Nichtigkeiten. Er sah aus dem Fenster. »Weißt du, man sollte doch meinen, dass sich meine Frau Sorgen um mich macht«, sagte er.
    »Tut sie das nicht?«
    »Es ist komisch, weißt du. Sie tut es nicht. Wirklich, wirklich nicht.«
    »Vielleicht kann sie den Gedanken daran nicht ertragen. Oder sie glaubt fest daran, dass alles gut wird.« Ich wusste selbst, was für eine seichte Vorstellung das war. Sie war mir oft genug begegnet – bei Freunden von Freunden und bei älteren Tanten, die mit beiden Händen meine Hand ergriffen und sagten: Irina, es wird alles gut, ich weiß es, ich weiß es einfach. Im Klartext bedeutet das: Ich habe nicht so richtig darüber nachgedacht – habe es mir nie klar und brutal vor Augen geführt –, weil es unangenehm ist und weil es mir letztendlich nicht so viel bedeutet.
    »Mit Glauben hat es bei Nina nichts zu tun. Und sie verleugnet es auch nicht. Sie weiß, was wir an Versicherungsbeiträgen zahlen. So oder so glaube ich nicht, dass diese Sache mit Nikolai besorgniserregender ist als all das, womit ich ohnehin schon fertig werden muss.«
    »Eben doch«, sagte ich. »Das sagte er ja gerade. Er hat gesagt, sie haben dich absichtlich laufen lassen. Und dass sie das zukünftig nicht mehr tun würden.«
    »Ach ja?« Er hob milde die Augenbrauen. »Kaum zu glauben. Kaum zu glauben, was ich mir alles hätte erlauben können, wenn ich das gewusst hätte. All die Restaurants, in denen ich hätte essenkönnen. Die Urlaube, die ich hätte machen können. Ich habe noch nie den Baikalsee gesehen, weißt du.«
    »Du nimmst es nicht ernst.«
    »Ich nehme es sehr ernst. Fürchterlich ernst. Was soll ich denn deiner Meinung nach noch tun? Wie sehr soll ich mich noch verstecken? Wo soll ich noch überall nicht hingehen? Fahre ich etwa selbst nach Perm, um meine eigenen Interviews zu führen? Nein. Ich schicke meine Assistenten hin. Ich sitze hier den ganzen Tag am Laptop. Wenn ich aus dem Haus gehe, tauche ich überall mit einem Trupp Gorillas auf und kriege trotzdem ein Schachbrett über den Schädel gezogen. Ich nehme es ernst. Wenn ich es noch ernster nehmen würde, würde ich mich auf der Stelle hinlegen und sterben, bloß um es hinter mir zu haben.«
    Wir schwiegen beide. Mein Blick fiel auf Ninas Schuh, der noch immer auf dem Tisch kauerte. Er sah aus, als würde er sich jeden Moment aufrichten, einen Knicks vollführen und quer durch den Raum Pirouetten drehen.
    »Entschuldige«, krächzte ich. »Ich will doch bloß, dass du vorsichtig bist.« Und das wollte ich. Ich wollte unbedingt, dass er sich vorsah – Alexander, der seinem Schicksal durch die richtigen Strategien, Vorsichtsmaßnahmen und Vorhersagen entgehen konnte. Alexander, der mit seiner Angst leben musste – sie ignorieren, verdrängen, überlisten musste –, solange es ihm zu überleben gelang.
    »Ich bin ja vorsichtig«, sagte er. »Das bin ich. Wirklich. Ich verspreche es. Also. Können wir jetzt über Perm reden?«
    Als ich am selben Abend in das Hostel zurückkehrte, sprach der Rezeptionist mich zum ersten Mal seit Menschengedenken freiwillig an.
    »Fräulein«, sagte er und wedelte mit einem

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