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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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ist sein bester Freund aus den Achtzigern vom Bus überfahren worden. Wussten Sie das? Sein bester Freund und Mitarbeiter, der ihn beschützt hat, der ihn bei seinen ersten Schritten hier in Petersburg an die Hand genommen hat. DerMann, dem er sein Interesse an der Politik verdankt. Das wussten Sie aber, oder? Sie wussten doch, dass Alexander bloß ein Schachwunderkind war? Er konnte kaum rechts von links unterscheiden. Er wusste nichts mit sich anzufangen. Hat immer nur diese Figürchen auf einem Brett hin und her geschoben und sich nach einer Nutte aus seiner Kommunalka verzehrt. Es war wirklich armselig. Und dann wurde sein Freund Iwan vom Nachtbus überfahren. Ein schrecklicher Unfall. War wohl unvorsichtig, als er über die Straße gegangen ist. Total besoffen, möchte ich wetten. Der Mann war ein hoffnungsloser Säufer.«
    Ich starrte Nikolai an.
    »Das hat er Ihnen nie erzählt, oder?«, fragte Nikolai.
    »Was wollen Sie mir damit sagen?«
    »Haben Sie sich nie gefragt, warum Alexander nie so einen Unfall hatte? Er ist auf seine Weise auch ziemlich unvorsichtig gewesen, kann man sagen.«
    »Sie meinen, ob ich mich gefragt habe, warum Sie ihn noch nicht umgebracht haben? Sicher nicht aus Mangel an Motivation.«
    Nikolai schnalzte missbilligend mit der Zunge und zog in einer seltsam manierierten, aufgesetzten Geste die Wangen ein. »Also bitte«, sagte er. »Wir wollen doch nicht ordinär werden.«
    Ich schloss die Augen. Ich hoffte, dass er verschwinden würde, aber er tat es nicht. Stattdessen beugte er sich zu mir herüber. Er stank nach kurzgebratenem Fleisch, nach billigem Fusel, nach drohender Gewalt. Ich hatte das Gefühl, ich würde im nächsten Augenblick aus schierer Charakterschwäche in Ohnmacht fallen.
    »Hören Sie«, sagte er. »Ich will ehrlich mit Ihnen sein. Die Wahrheit ist folgende, Irina: Wenn Ihr Freund Besetow seine Kundgebungen abhalten will, seine kleinen öffentlichen Aussetzer oder was das ist – kein Problem. Das stört uns nicht im Geringsten. Es nützt uns sogar. Wenn er in seinem goldenen Käfig sitzen und sein Ego streicheln will – auch gut. Und die Beerdigung, die Sie planen, mit den lustigen kleinen Plakaten – ganz reizend. Wunderbar. Nur zu.«
    Er öffnete und schloss seine Faust, wie ein Tier, das seine ausfahrbarenKrallen lockert. »Aber der Film. Der ist ein bisschen zu viel, meinen Sie nicht?«
    »Zu viel?« Mich packte – nachträglich und unnütz – das Entsetzen. Mir bebten wahrhaftig die Knie. Meine Wirbelsäule krümmte sich unter dem gewaltigen Ansturm der Angst.
    »Das geht zu weit. Wir haben lange Geduld gehabt.« Er zog mich dicht zu sich heran, und es fiel wieder ein Lichtstrahl auf sein Gesicht. Ich konnte erkennen, wo er sich beim Rasieren geschnitten hatte. Ich erkannte die einzelnen Haare zwischen seinen Augenbrauen, die aussahen wie die Beine massakrierter Käfer. »Der Kreml hat viel Geduld und viel Toleranz bewiesen. Er hat großzügig ein Auge zugedrückt und sich einiges an Beleidigungen und Albernheiten gefallen lassen. Aber eins sollten Sie wissen, Irina, und sagen Sie es auch Ihrem Chef: Diese Großzügigkeit hat Grenzen. Der Film geht zu weit. Und Ihr Alexander ist vielleicht berühmt. Vielleicht ist er beliebt. Aber selbst Berühmtheiten leisten sich Fehler im Straßenverkehr. Selbst Berühmtheiten haben manchmal Unfälle.«
    Ich versuchte mich loszumachen, und diesmal ließ er es zu.
    »Ich denke, Sie verstehen mich schon. Aber Alexander scheint es leider vergessen zu haben. Erinnern Sie ihn doch bitte daran, ja?«
    Ich tat einen ersten Schritt, dann einen zweiten, und dann knickten mir die Knie ein, und ich rannte.
    »Sie werden es tun!«, rief Nikolai. »Ich kenne Leute wie Sie, auf Sie ist Verlass!«
    Am nächsten Tag war ich vor Sonnenaufgang auf den Beinen, als die Bäckereien gerade ihre Lichter einschalteten. In der Metrostation saßen Betrunkene zitternd in den Alkoven, bis die Polizisten sie wegstießen. In der Bahn kehrten hohläugige junge Leute von ihren langen Klubabenden heim, mit Pupillen so groß wie ein Daumenabdruck.
    Ich erreichte Alexanders Wohnung, als der Himmel sich geradefleckig grau verfärbte. Ich wartete unten vor der Tür, bis ich das Licht angehen sah, und dann ließ ich noch eine Viertelstunde verstreichen. Vlad drückte für mich auf den Summer, und ich klopfte bei Alexander an der Tür, hörte eine Stimme und trat ein.
    Nina hielt einen Schuh in der Hand, die Kiefer wild entschlossen aufeinandergepresst.

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