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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Vielleicht lag es daran, wie das Licht auf sie fiel, aber ihr rotes Haar und ihre rasende Wut und ihre schwer atmende Brust ließen sie unschön wirken. Zorn kann schöne Frauen noch hinreißender machen, habe ich gehört, aber bei Nina war es anders. Die Wut verzerrte ihr Gesicht, bis es irgendwie ihres und doch nicht ihres war – es war dasselbe kunstvolle Arrangement derselben objektiv feinziselierten Züge, nur dass jetzt insgesamt etwas Hässliches dabei herauskam. Es war, wie wenn man von einem Gemälde zurücktritt und sieht, wie die Farbkleckse eine grauenvolle neue Bedeutung gewinnen.
    »Du«, sagte Nina, »bist ein erbärmlicher Mensch.« Es klang, als meinte sie es auch so. Alexander saß mit gesenktem Kopf, mit hochgezogenen Schultern da. Ich hob instinktiv die Hände vor die Augen, versuchte mich zurückzuziehen und stieß dabei eine antike hölzerne Schale um, auf der eine orthodoxe Kathedrale abgebildet war.
    Nina sah mich an. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich unmerklich – einen Augenblick lang schwappte Verachtung darüber hinweg und verschwand sofort wieder. Und in Alexanders Blick: tiefste Erniedrigung. Ich muss ja wissen, wie das aussieht. Dann nickte Nina mir kurz zu und dematerialisierte sich lautlos im Flur.
    »Also dann«, sagte Alexander etwas überartikuliert. »Guten Morgen.«
    »Es tut mir leid. Ich habe angeklopft. Ich dachte, ich hätte jemanden antworten hören.«
    Er wedelte mit der Hand, als wollte er die unausgesprochenen Fragen verscheuchen. »Schon okay. Das kann passieren.«
    »Du bist nicht glücklich«, stellte ich geistesgegenwärtig fest.
    Das erinnerte mich an Jonathan. Ich dachte wieder, dass es seinGutes hatte, die schlechten Seiten nicht kennenzulernen – die kleinen, hässlichen Dinge, die man irgendwann über einen Menschen erfährt, so sehr man sich auch bemüht, es nicht zu tun. Die kleinen Anflüge von Egoismus und Herzlosigkeit. Die letztendliche, unausweichliche Unfähigkeit, einander zu verstehen.
    »Glücklich? Ach, ist das der eigentliche Sinn der Sache?« Es war seltsam intim, ihn das sagen zu hören, wie wenn man jemanden im Schlaf reden hört. Er trommelte mit dem Stift auf einen Stapel Papier und schwang sich freudlos in seinem Bürostuhl zu mir herum. »Sollten wir die zusätzliche Zeit nutzen, um Perm noch einmal durchzusprechen?«
    »Alexander, ich …«
    »Der Aufseher trifft sich im Café mit euch. Von dem Stützpunkt selbst haltet ihr euch fern. Ich komme nicht mit, wie du weißt.«
    »Alexander.«
    »Ich bleibe einfach hier und genieße die Freuden des trauten Heims. Aale mich in der Sonne meines ehelichen Glücks.«
    »Bitte.«
    »Bitte«, echote er. »Bitte lass uns nicht darüber reden. Es ist ein ziemlich banales Problem, meinst du nicht?«
    »Ja.«
    »Es gibt wichtigere Dinge zu besprechen.«
    »Ja!«, sagte ich mit Nachdruck.
    Alexander zog die Augenbrauen hoch.
    »Nikolai hat mich wieder angesprochen. Er wollte, dass ich es dir sage.« Ich musste an Nikolais Gesicht denken und daran, wie nah es mir gewesen war. »Er hatte schrecklichen Mundgeruch«, sagte ich.
    Alexander nahm seine Brille ab. Er massierte seinen Nasenrücken. Er sah ein wenig mitgenommener, ein wenig abgekämpfter aus als sonst.
    »Hat er mir gedroht oder dir gedroht oder so was in der Art?«
    »Woher weiß er immer, wo ich bin?«
    Alexander kniff die Augen zusammen. »Du wohnst seit einem Jahr in ein und demselben Hostel. Du machst es ihm nicht gerade schwer.« Er presste sich den Zeigefinger gegen die Stirn, dass sich eine kleine Wulst bildete. »Was hat er gesagt?«
    »Er sagt, das mit dem Film geht zu weit.« Plötzlich wurde mir klar, wie viel Angst ich um Alexander hatte. Es erstaunte mich, weil ich mich kaum noch erinnern konnte, wann ich zuletzt um jemand anderen Angst gehabt hatte als um mich selbst.
    »Ich bin schon oft zu weit gegangen«, sagte er müde. »Ich war schon immer zu weit.«
    Das stimmte, das wusste ich. Er ging zu weit, und er lebte mit den Konsequenzen. Es war anders als bei mir – bei ihm kamen die Bedrohungen von außen, und sie würden ihn den Verstand und das Leben gleichzeitig kosten. Trotzdem waren wir einander in mehr als einer Hinsicht ähnlich. Der Tod belauerte uns; jeden Tag erhaschten wir Blicke auf ihn aus den Augenwinkeln, eine grinsende Hyäne im Gesträuch. Wir wussten nie, wann er kommen würde, und an besseren Tagen konnten wir uns einreden, er würde gar nicht kommen. Alexander konnte sich einreden, niemand würde ihm jemals bis

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