Das Leben ist groß
Gleichgültigkeit mir einen quasi-ironischen Schutz vor allen echten Gefahren bot. So oder so hatte ich auf allen meinen Wegen, in all diesen Nächten nie ernsthaft Angst vor etwas, bis Nikolai mich wiederfand.
Es war früh am Abend, Ende März, in jener Jahreszeit, in der man tiefe Dankbarkeit empfindet, bloß weil der Himmel am späten Nachmittag noch blass aussieht. Die Jahreszeit, in der man noch die allerkleinsten Freuden genießt – worin ich nie besonders gut gewesen bin. Aber an jenem Tag gab ich mir zumindest Mühe, es zu tun – ich war früh bei Alexander aufgebrochen und hatte einen langen, mäandernden Spaziergang am Fluss gemacht, hatte die Eremitage besucht und Stunden später am Ufer zugesehen, wie sich die Klappbrücke hob. Es war schon spät, als ich schließlich in die Metro stieg, unter der Newa hindurch auf die Wassiliewski-Insel fuhr und den kalten Heimweg in mein Stadtviertel antrat.Als ein Mann kurz vor dem Hostel aus dem Schatten eines Gebäudes trat, war ich fast zu müde, um mich zu erschrecken.
»Irina?«
Etwas umfing mein Handgelenk wie ein eingetrockneter Aal. In meiner Kehle durchlief ein stummer Schrei sämtliche Stadien seiner irdischen Existenz.
»Wer sind Sie?«, zischte ich.
Er bewegte sich, und die Leuchtröhren des Spätkauf-Ladens erhellten ein Stück rohe, rote Haut. Ich erinnerte mich.
»Junge Frau«, sagte Nikolai. »Ich glaube, wir kennen uns schon.«
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte ich. Die Begegnung im Café im letzten Herbst fiel mir wieder ein, noch bevor ich Alexander kennengelernt hatte. Und mir wurde unabwendbar klar, dass er mich kaum bis hierher hätte verfolgen können – durch das Labyrinth der Metro, an den drei Millionen Kunstwerken der Eremitage vorbei –, ohne bemerkt zu werden. Nein, es war schlimmer. Er hatte mich hier erwartet.
»Da überschätzen Sie sich aber«, sagte er. Ich starrte ihn an und versuchte auszumachen, was in seinem Gesicht vor sich ging. Es sah aus, als hätte man ihm sorgfältig und präzise die Haut abgezogen, vielleicht im Rahmen eines wissenschaftlichen Experiments.
»Sie arbeiten jetzt für Alexander Besetow«, sagte er.
»Das beantworte ich nicht.«
»Das war keine Frage.«
Ich wandte den Blick ab. Eine gebeugte Alte zuckelte vorüber und murmelte vor sich hin. Ich versuchte ihren Blick aufzufangen, aber sie sah nicht vom Boden hoch.
»Hören Sie«, sagte Nikolai. »Ich weiß nicht, was Sie da treiben. Vielleicht haben die Amerikaner ja beschlossen, Besetow auszuspionieren, und wenn es das ist, dann nur zu.«
Ich schwieg.
»Aber in letzter Zeit zweifle ich eher an dieser These. Wir zweifeln daran. Wir glauben, Sie sind einfach eine – eine unabhängige Akteurin, freundlich ausgedrückt, oder ein Querschläger. Es siehttatsächlich danach aus, dass Sie ganz allein hier sind, aus Ihren eigenen unerfindlichen Gründen, so unglaublich es ist. Daher haben wir uns gefragt, ob wir Sie nicht davon überzeugen können, Ihren Ansatz zu überdenken.«
Ich schwieg. Ich konnte es kaum glauben, dass es allen Ernstes Leute gab, die so redeten, und ich hatte keine Antwort parat – weder eine würdevoll-herablassende noch sonst irgendeine –, die nicht abgedroschen geklungen hätte.
»Sie sagen nichts? Auch gut«, sagte Nikolai. »Die meisten Menschen kann man kaufen, aber ich nehme an, das gilt nicht für alle.«
Ich wollte mich an ihm vorbeischieben, aber er versperrte mir mit seinem breiten Brustkasten den Weg.
»Nicht so eilig«, sagte er. »Wir sind noch nicht fertig mit unserem Gespräch.«
In dem Moment bekam ich Angst. Mir kam in den Sinn, dass sich Nikolai, wenn er sein Ziel – was immer es war – nicht im Gespräch erreichte, auf andere Methoden verlegen könnte.
»Sie halten Alexander bestimmt für sehr mutig, oder?«, fragte Nikolai. »Wie er der Gefahr ins Gesicht sieht? Und alles nur für seine Ideale. Sehr poetisch, nicht? Sehr tapfer. Sie bewundern ihn. Und warum er Sie so dicht ranlässt, weiß ich nicht. Vielleicht bespringt er Sie ja, wenn mir auch nicht einleuchten würde, warum. Aber warum auch immer – jetzt sind Sie eben hier. Sie respektieren den Mann. Sie halten ihn für moralisch unfehlbar. Sie würden für ihn alle möglichen Opfer bringen. Vermutlich haben Sie das schon.«
Ich sah zu Boden. Das stimmte nicht ganz. Ich hatte keine Opfer gebracht, jedenfalls keine, die ich nicht ohnehin hatte bringen wollen.
»Dabei gibt es eine Menge, was Sie über Alexander noch nicht wissen. Zum Beispiel
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