Das Leben ist groß
Luft, und die Wolken hockten tief und schwer am Horizont. Sie sahen wie die Schaumkronen tödlicher Wellen aus – wie der Ansturm eines beispiellosen Unwetters mitten auf dem Atlantik, eines gewaltigen Zyklons, den nur die Seesterne und die ängstlich weggeduckten Haie zu Gesicht bekommen. Unter der sirupartigen Schwere der Luft regte sich stumpfe Kälte. Es war dieselbe stickige Kühle wie an dem Tag meiner Ankunft in Moskau vor einer halben Ewigkeit. Ich war seit fast einem Jahr hier.
Viktor stand in Sonnenbrille, mit einem Megaphon in der Hand auf einer Eierkiste. Ich hielt mich am Rand der Menge und verkaufte Plakate zu 150 Rubel das Stück. Auf der anderen Straßenseite liefen Polizisten wie eingesperrte Tiere auf und ab und klopften mit ihren Schlagstöcken auf den Boden. Die Genehmigung für die Veranstaltung war erst am selben Morgen gekommen. Vielleicht warteten sie auf einen Vorwand, jemanden zu verhaften, oder sie hatten Weisung, die Protestaktion eine festgelegte Zeitlang laufen zu lassen – gerade lange genug, um Putin als geduldig, als liberal, als gnädig dastehen zu lassen. Ich sah sie mir genau an, aber Nikolai konnte ich nirgends entdecken.
Die Menge war erfreulich groß. Einige der Demonstranten schwenkten Fahnen, andere hüpften auf und ab, und die vieldimensionale Bewegung ihrer sommerlichen Kleider sah aus wie die Flaggen friedfertiger Völker bei einer Sportveranstaltung. Manche hatten sich schwarz angezogen; ein paar nahmen das Thema derKundgebung sogar so wörtlich, dass sie Leichenhemden trugen und Krokodilstränen vergossen. Manche streuten Blumen. Manche hielten feierlich Bilder hoch – von Anna Politkowskaja, von Sacharow, sogar von Alexander – und paradierten sie mit todernsten Gesichtern herum. Andere sahen die Feier eher als vergnügliche Veranstaltung: Sie zogen Flachmänner aus ihren Taschen und Stiefeln hervor, drehten sich mit fliegenden Mänteln um sich selbst oder skandierten die Parolen von verrückteren, alberneren, abwegigeren Anliegen als unseren. Alexander stand, von Leibwächtern flankiert, auf einem Podest. In der Menge waren eigens angeheuerte Scharfschützen postiert. Ich blickte über sie hinweg in die Wolken, deren kumulierte Flanken sich wie Wildbret aufeinandertürmten.
Alexander winkte der Menge zu. Die Menge schrie sich heiser.
Und dann winkte ich zurück, ohne es zu wollen. Ich meine, ich wusste nicht, dass ich winken würde, bis ich es tat. Mein Arm winkte ohne meine Erlaubnis.
Es war nichts Dramatisches. Es fühlte sich an, wie wenn ein Augenlid unkontrollierbar zuckt, nur kraftvoller. Schließlich kostete es Kraft, die Knochen, Muskeln und Sehnen eines ausgewachsenen menschlichen Arms in Bewegung zu setzen; es war ein aggressiver Akt, die normalen mechanischen Vorgänge – die verblüffende, grazile, komplexe Kunst der Bewegung – zweckzuentfremden und einem anderen, dunkleren Ziel dienstbar zu machen. Und einen Moment lang lag ein Lächeln auf meinem Gesicht; einen Moment lang amüsierte es mich, wie seltsam es sich anfühlte. Und dann bohrte sich ein eisiger Dorn in mein Herz und schlug dort Wurzeln, und ich hatte Angst.
Denn jetzt war es da. Das war es.
Aber sobald ich mir sicher war, war ich es schon wieder nicht. Ich hatte auf das hier so lange gewartet, so viele Jahre lang, dass ich es mir möglicherweise nur einbildete. Die Szenerie um mich herum – die Skandierenden, die Marschierenden, die unauffälligen Inlandsgeheimdienstleute, Alexander – verschwamm vor meinen Augen. Das Gebrüll wurde zu einem gedämpften Vibrieren, wiedas Rauschen von Blut in den Ohren oder das unhörbare elektrische Pulsieren des Weltalls. Ich beobachtete meine Hand. Ich starrte sie an. Ich forderte sie heraus, sich zu bewegen. Sie blieb still.
Vielleicht auch nicht, dachte ich. Vielleicht wirklich nicht.
Ich ließ die Plakate fallen, wo ich stand. Ich schleuderte wie ein Idiot meine Mütze weg. Ich rannte durch die Straßen, und die Newa kräuselte sich unter mir, und ich wich wütend fluchenden alten Frauen aus – und plötzlich zog mein kurzes, wenig beeindruckendes Leben in bewegten Bildern an mir vorüber, als hätte ich die gesamte Zeit mit Laufen verbracht: Ich rannte in den Nächten nach der Diagnose den Charles River entlang; dann rannte ich mit meinen unbeschwerten Highschool-Freunden durch den Schnee; dann lief ich durch das rostrote Laub eines vergessenen Herbsttages hinter meinem Vater her. Ich preschte quer durch die Stadt, und ich hatte das
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