Das Leben ist groß
Briefumschlag. »Ich glaube, Sie haben Post.«
»Post?« Das war neu. Das hatte noch niemand aus meinem früheren Leben ausprobiert. Sie hatten es mit E-Mails versucht, bis ich meinen Account gelöscht hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen,wie mich jemand aus der Ferne hätte finden sollen, ohne selbst herzukommen.
»Sieht ganz so aus.« Er zog die Nase hoch und gab mir den Brief. Ich spürte etwas Schweres, Fingerdickes in dem Umschlag liegen. Blassblaue, handschriftliche kyrillische Buchstaben überzogen das Papier wie Krampfadern. Irgendetwas an der Handschrift ließ mein Herz stocken und sich überschlagen, bevor ich überhaupt begriff, wie mir geschah – es war wie der namenlose Geruch aus dem Kinderladen, wie die herzzerreißende Melodie deiner allerersten Spieluhr.
Der Brief war von Lars.
Ich riss den Umschlag auf und holte den höckerigen Gegenstand heraus. Es war ein König. Ich hielt ihn umklammert, während ich das Schreiben las.
Liebe Irina,
ich hoffe, dieser Brief erreicht Dich bei bester Gesundheit, aber vor allem hoffe ich, dass er Dich überhaupt erreicht. Ich weiß noch, dass in den Achtzigern, als ich die Sowjetunion bereiste, die Post recht unzuverlässig war. Und davon abgesehen weiß ich nicht, ob er richtig adressiert ist – ich habe mich bei mehreren Herbergen erkundigt, und in dieser hier wohnt angeblich eine Frau Deines fortgeschrittenen Alters mit Deinem unauffälligen Erscheinungsbild. Ich hoffe, dass Du den Aufenthalt in Leningrader Herbergen als angenehmer empfindest als ich es damals empfunden habe! Ich hatte meinerzeit einige, sagen wir, interessante Erlebnisse. Anstand und Sitte verbieten es mir, näher darauf einzugehen.
Auf dem Harvard Square ist alles beim Alten, und ich sitze wie immer an meinem Brett. An Gegnern herrscht kein Mangel, denn die jungen Studenten mit den klobigen Brillen und den engen Hemden haben es sich zur Angewohnheit gemacht, an den Wochenenden gegen mich anzutreten. Sie spielen natürlich besser als Du, aber ich finde sie weniger amüsant, und sie interessieren sich weniger für meine Geschichten als Du es getan hast. Als Männersind sie weltgewandter und erfahrener und lassen sich weniger leicht beeindrucken. Aber als Studenten halten sie es außerdem für eine Art ironischen Zeitvertreib, gegen mich zu spielen. Da war mir Dein ehrliches, wenn auch unerklärliches Interesse lieber, obwohl Du leider keinerlei Fortschritte gemacht hast.
Ich denke, Du solltest wissen, dass Dein Freund Jonathan Dich sehr vermisst hat. Nach Deiner Abreise hat er mich recht häufig besucht und hat viele Male gefragt, wie er Dich wiederfinden könnte. Ich habe lange überlegt, ob ich es ihm sagen soll. Aber ich fand, dass Du das Recht hättest, davonzulaufen, wenn Du es wolltest. Ich hoffe, Du hast nicht die ganze Zeit darauf gewartet, gefunden zu werden.
Übrigens kommt es mir seltsam vor, an jemanden zu schreiben, ohne zu wissen, ob er den Brief liest oder nicht, ob er überhaupt da ist oder nicht. Es ist, wie wenn man mit sich selbst oder mit den Toten redet, und beides habe ich in meinem Leben oft genug getan. Also komme ich zum Schluss.
Ich weiß, dass das, wovor Du davongelaufen bist, Dich früher oder später einholen wird, wenn es das nicht schon getan hat. Lass mich Dich daran erinnern, dass Du mehr Wörter kennst, als Du je gebrauchen kannst – das war schon immer so – und Dich daher nicht allzu sehr grämen solltest, wenn Dir welche fehlen.
Dein Freund
Lars Bergquist
PS: Anbei schicke ich Dir meinen König. Du hättest ihn nie mit herkömmlichen Mitteln erwischt, aber jetzt möchte ich, dass er Dich bekommt. Allerdings möchte ich es nicht so verstanden wissen, dass er sich ergeben hat. Vielleicht ruht er sich einfach nur ein bisschen aus.
Ich starrte auf den Brief, bis das Papier vor meinen Augen verschwamm und in meinem Kopf ein vollbesetztes Orchester einsetzte. Irgendwo in der Ferne hinter mir spürte ich Laub aufwirbeln,fühlte ich den Wind auffrischen, und ein schrecklicher Frühling verdichtete sich zu einem Orkan.
Ich hatte nicht gedacht, dass noch jemand an mich dachte. Ich hatte nicht gedacht, dass je jemand an mich denken würde – bruchstückhaft zwar, ein wenig spöttisch und verzerrt. Aber doch.
»Junge Dame«, sagte der Rezeptionist. »Wenn ich Sie bitten dürfte, im Empfangsbereich nicht zu weinen.«
Ende Mai war die Trauerfeier für die Demokratie angesetzt. Das Wetter wurde endlich milder; eine bedrohliche Feuchtigkeit lag in der
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