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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Gefühl, wenn ich mich so schnell, so vollständig bewegen konnte, musste ich mich getäuscht haben, was das Zucken anging. Ich sprintete, und ich fluchte, und ich dachte, selbst wenn ich mich nicht getäuscht hatte – wenn ich es wirklich gesehen hatte, wirklich gespürt –, hatte ich es jetzt ganz sicher hinter mir gelassen, es auf dem Platz zurückgelassen, wo eine aufgebrachte Menschenmenge es zu Tode trampeln würde.
    Ich polterte die Treppe zum Hostel hinauf, und ich rannte in mein Zimmer, und ich warf mich auf das Bett. Das flatterige Pochen meines Herzens wirkte beinahe beruhigend. Ich starrte an die Decke, und ich starrte die Wand an, und dann starrte ich auf die sieben Flecken-Kontinente auf dem Teppichboden. Ich dachte an Afrika – das wirkliche Afrika, nicht das auf dem Teppich – und daran, wie gern ich dort hingefahren wäre, um mir die Pyramiden anzusehen und die Sphinx und lauter Dinge, die mir nicht gehörten, von denen ich aber immer (heimlich zwar und respektlos) geglaubt hatte, sie seien für alle da. Ich redete mir frenetisch ein, vielleicht würde ich ja doch noch eines Tages fahren; vielleicht würde mein Leben genauso weitergehen wie gerade jetzt (so nomadisch, unwahrscheinlich und interessant), bis ich mich eines Tages hinsetzteund meine Memoiren schrieb. Dass ich schon vor Jahren zum Tode verurteilt worden war, würde ich lachend als verrückte Anekdote aus meiner Jugend abtun. Vielleicht, vielleicht. Mein Herz beruhigte sich allmählich, das Blut rauschte mir in immer sanfteren Strudeln durch den Kopf.
    Dann passierte es wieder. Meine Hand ruckte – wenig nur, maßvoll, aber vollkommen unabsichtlich. Ich sah voller Abscheu zu, wie sie sich gegen meinen Willen bewegte; es war, wie wenn man die postmortalen Zuckungen eines geköpften Huhns beobachtet. Es war meine Hand, aber zugleich war sie es ganz eindeutig nicht: Sie hatte mich verraten, wie es schien, sich gegen mich aufgelehnt. Sie war gekommen, um mich im Burgfried zu ermorden.
    Ich rammte meine Faust gegen die Wand und ließ das Gewebe meiner Hand in den Schmerz meiner Hand übergehen und den Schmerz meiner Hand in den Schmerz überall sonst.
    Draußen vor dem Fenster spielte ein kleiner Junge mit einem Windrad, und ich erinnerte mich an den Ausblick durch das U-Bahn-Fenster am Tag meiner Diagnose: wie die Farben plötzlich etwas Gedämpftes an sich hatten, die Szenerie etwas Eintöniges und zugleich eine neue Eigentümlichkeit – es war, als überzöge eine graue Lackschicht ein Gemälde, von dem jemand behauptete, es sei das schönste der Welt, und es sei wirklich zu schade, dass man es nicht richtig sehen könne.
    Ich hatte jahrelang – jahrelang! – darüber nachgedacht, wie ich es tun würde, wenn es Zeit wurde, es zu tun. Meine derzeitigen Aussichten, das war mir immer klar gewesen, waren keine. Weder zu Hause, wo mein schleichender Abschied Stück für Stück mitverfolgt und betrauert werden würde, nicht zuletzt von mir selbst, noch hier – anonym und einsam, in einem Land, das mich in einer pissegetränkten staatlichen Anstalt abladen würde, wo ich brabbelnd, in meinem eigenen Kopf gefangen, erlosch.
    Also hatte ich nachgedacht. Ich hatte an die saubere Zuverlässigkeit von Schusswaffen gedacht; ich war schaudernd vor den panischen, erstickten letzten Minuten beim Erhängen zurückgeschreckt.Dann gab es Ertränken, aber das ist keine Option, wenn man weiß, wie jemand am Ende aussieht, der sich ertränkt. Ich hatte mit den verweichlichten femininen Lösungen geliebäugelt – Tabletten und dergleichen. Optionen, die einem Zeit für Interventionen von außen nach dem Abraham-Isaak-Muster lassen, wenn die Götter beschlossen haben, man sei genug gestraft und hätte seinen Glauben bewiesen. Und dann das: Sobald die Entscheidung unmittelbar bevorstand, suchte ich nach Gründen, sie zu verschieben. Sofort ließ ich mich auf einen grauenvollen Tauschhandel ein. Mein ganzes Leben hatte ich nur unter dem Vorwand gelebt, dass die Entscheidung schon gefallen sei: Sobald ich etwas bemerkte – irgendetwas –, wäre es das. Dann würde ich handeln müssen. Es gab zwar eine Gnadenfrist mit guten kognitiven Fähigkeiten zwischen den ersten Symptomen und dem Beginn des mentalen Verfalls – und sie war alles andere als vernachlässigbar: Der Verstand meines Vaters hatte nach dem Auftreten der ersten Symptome noch jahrelang mehr oder weniger funktioniert –, aber ich würde mich nie darauf verlassen können. Das Risiko war viel zu

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