Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
Vom Netzwerk:
hättest du ihnen keine Wahl gelassen.«
    »Was?« Ein panisches Ekelgefühl regte sich hinter seinem Herzen – die dämmernde Erkenntnis, dass ein schrecklicher Fehler geschehen war; das Übelkeit erregende Gefühl, ein ganzes Leben verschlafen zu haben.
    Nina fing an, ihre Kleider in den Koffer zu werfen. »Sie wollten natürlich nicht, dass du fährst. Sie wollten dich natürlich beschützen. Davon hängt schließlich alles ab, oder? Das ist doch der Sinn der ganzen Operation?« Sie rieb sich gewaltsam mit den Fingerknöcheln die Augen, die rotgerändert waren von Salz und Reue. »Früher hättest du wohl gesagt, es war ein forcierter Zug, nehme ich an.«
    »Ich muss da hin.«
    »Du musst da hin? Deine Frau verlässt dich gerade, ist dir das schon aufgefallen? Das bedeutet das alles hier.« Sie zeigte auf ihre Reisetaschen. Sie standen neben der Tür aufgereiht und sahen aus wie die Krokodile, aus denen sie entstanden waren. »Wenn du so was siehst, solltest du eigentlich versuchen, mich aufzuhalten.«
    Nina wurde von dem Licht, das durch die Tür hereindrang, von hinten beleuchtet. Ihr rotes Haar sah schöner aus als je zuvor, und er erinnerte sich daran, wie sie ausgesehen hatte, als er sie zum ersten Mal traf – unerträglich schön, unerträglich zart, eine Frau, bei der man sein Leben mit dem Versuch zubringen konnte, sie zu verstehen und zufriedenzustellen. Er fragte sich, was er damals an diesem Vorhaben so reizvoll gefunden hatte. Vielleicht war es ein Bedürfnis, das aus der Zeit mit Elisabeta zurückgeblieben war. So heftig und aus so großer Distanz zu lieben; zu erleben, wie die Luft ständig blau schillernd statisch geladen ist; den Umriss des Raums, der zwischen zwei Menschen liegt, als die spürbarste Kontur seines Lebens kennenzulernen – nach all diesen Erfahrungen war ihm eine feste Bindung als einzig lebbare Alternative erschienen, wie klein und trivial, wie alltäglich und anstrengend diese Bindung auch war.
    »Eigentlich«, sagte Nina, »solltest du mich jetzt anflehen und fragen, ob es nicht irgendwas, irgendetwas gibt, das du tun kannst, damit ich bleibe.«
    »Nina«, sagte er. »Können wir nicht später darüber reden?«
    Oder vielleicht war es etwas anderes. Vielleicht war der lebenslange Anspruch, Russland zu reformieren, so abstrakt und unmöglichzu erfüllen, dass ihm das kleinere Ziel – eine schwierige Frau glücklich zu machen – erreichbarer erschienen war. Aber es war nicht erreichbarer. Die Demokratie würde durch die Straßen fegen, eine freie Presse den Chor scharfzüngiger Unzufriedenheit anstimmen, ein transparentes, funktionierendes Gesetzeswerk würde die Macht der Regierung einhegen, ehe jemand Nina glücklich machte. Das war einfach etwas, was Alexander nicht mehr miterleben würde.
    »Ich fahre zum Flughafen, Nina«, sagte er.
    »Schön«, sagte sie. »Wenn du wiederkommst, bin ich weg.«
    »Ich weiß.«
    Er trat auf sie zu und strich ihr über die Wange, und zum ersten Mal seit Langem ließ sie es zu. In gewisser Weise bewunderte er sie für das, was sie tat. Er war unglücklich, aber Nina war in seinem abgeschotteten Leben die einzige Konstante. Sie konnte gehen, und er wurde dadurch nicht unabhängiger; sie konnte gehen, und er würde niemanden Neues finden; sie konnte gehen, und er konnte noch lange nicht tun, was er wollte. Das einzige persönliche Glück, das er kannte, bestand in den kleinen Freuden eines wohlgeordneten häuslichen Lebens; er hatte sich immer eingeredet, dass die größere, bedeutendere Befriedigung ihm noch bevorstand. Was Nina anging, so hatte er gewusst, dass sie genauso unglücklich war, aber er hatte geglaubt, dass sie die Wohnung viel zu sehr mochte, um sie je zu verlassen. Dass er sich darin geirrt hatte, flößte ihm – ein wenig zumindest, im Nachhinein – Respekt vor ihr ein.
    »Ich kann so nicht leben«, sagte sie. »Und es ist kein Ende abzusehen. Es kann nur damit enden, dass ich Witwe werde. Das ist der einzige Ausweg, der mir bleibt.«
    Er verstand, und wie alles, was man endlich begreift, konnte er gar nicht fassen, dass er es so lange nicht begriffen hatte. Er verstand, wie sie sich auf ihre Weise danach gesehnt hatte: nach der leeren Wohnung, ohne die vielen Fremden, die Debatten und das unaufhörliche Tastaturgeklapper; nach der glitzernden Stadt draußenvor den Fenstern, deren ganzes Potential mit Geld oder Schönheit zu kaufen war. »Hast du deshalb nie Angst um mich gehabt?«, fragte er.
    »Vielleicht. Vielleicht

Weitere Kostenlose Bücher