Das Leben ist groß
älteren Herrn, der empört mit dem Gehstock fuchtelte.
Irgendwo mitten in diesem Spurt fand Alexander einen Augenblick Zeit, es zu genießen – das beglückende Gefühl, ohne Wegbeschreibung, ohne Fahrplan, ohne Strategien für jedes denkbare Sicherheitsrisiko in der Öffentlichkeit zu sein, ohne eine Armee von Helfern und Aufpassern. Es lag ein kleines Hochgefühl darin – nicht so stark wie bei der Aufhebung der Leibeigenschaft oder dem Abzug der Armee aus Moskau oder bei freien Wahlen in einer unvorstellbar fernen Zukunft, aber doch nicht zu verachten: Das kleine Glück, sich den eigenen Weg durch eine unübersichtliche Welt zu bahnen, zu stolpern, ohne dass es jemand sah, und sich dem Risiko auszusetzen, selber Fehler zu begehen.
KAPITEL 20
Irina
Perm, Juni 2007
Viktor und ich hatten uns darauf geeinigt, zu fahren. Ich hatte ihn spätabends angerufen – nachdem er stundenlang mit Boris getrunken, seinen Schimpftiraden gelauscht und unglücklich dazu mit dem Kopf genickt hatte – und gesagt: »Wir fahren doch noch?« Am anderen Ende der Leitung hatte Schweigen geherrscht, aber ich hatte von vornherein gewusst, womit es enden würde. Er sagte: »Wie wäre es mit morgen?«
Wir hatten uns frühmorgens in die Wohnung geschlichen, noch bevor Vlad seinen Dienst angetreten hatte. Viktor hatte einen eigenen Schlüssel bekommen, als Alexander ihn gut genug kannte, um ihn für loyal zu halten, und nicht gut genug, um zu ahnen, wozu diese Loyalität ihn treiben würde. Ein Netz aus Tau hatte sich über die Fensterscheiben gebreitet, und ein übereifriges, gebrochenes Licht schien herein. Es war die Sorte Licht, die sich dir vor die Füße wirft und um Gnade winselt. Oder die Sorte, die sich im Namen der Ehre in ein Messer stürzt.
Nina war an jenem letzten Morgen in St. Petersburg seltsam gütig zu mir. Wir hatten uns gegenseitig bei verstohlenen Handlungen erwischt – sie räumte gerade die teuren Seifen aus dem Badezimmerschrank, und ich schmuggelte einen Zettel in Alexanders Jackentasche.
»Also fahrt ihr doch?«, hatte sie gefragt, und während ihr Mund zu einem vage missbilligenden Ausdruck verzogen war, lag in ihrer Stimme etwas Ruppiges, das mir Vertrauen einflößte. Es rief flüchtig ein Bild von der Person wach, die sie vielleicht einmal gewesen war: jünger und raubeiniger, ein Mensch, der sich regen musste, um genug zu essen und zu tun zu haben. Ich verstand plötzlich, wie es dazu kommen konnte, dass jemand die meiste Zeit damit zubrachte, sich in einem riesigen seidenen Bett herumzuwälzenoder die zarten Knospen überteuerter Ohrgehänge zu betasten. Nichts lässt einen Menschen so materialistisch werden wie harte Entbehrungen.
(Jetzt, im Flugzeug, löst diese kleine Beobachtung ganze Gedankenkaskaden in mir aus; ich entwirre die vielen Einzelfäden meines eigenen Verlusts, koste jede Nuance dieser speziellen Katastrophe aus. Wie werde ich meine eigene Form des Materialismus vermissen, die kostbaren sinnlichen Freuden des Daseins. Nicht nur die jenseitigen, entrückenden Ausblicke oder Symphonien, Epen oder Orgasmen, so wichtig sie waren. Da waren auch – und nicht weniger wichtig – die bescheidenen Genüsse, auszuschlafen oder ein richtig gutes Sandwich zu essen. Und da war die Möglichkeit, solche Beobachtungen zu machen wie bei der Begegnung mit Nina: die Möglichkeit, dass die Welt sich ganz leicht zur Seite neigte, wenn man gerade glaubte, man hätte alle ihre potentiellen Positionen kennengelernt. Außerdem war da das Glück, die Schicksale und Hintergründe fremder Menschen und Länder zu erkunden, die immer so viel merkwürdiger und zwingender waren als jedes erfundene Schicksal auf dem Papier. Wie ich das alles vermissen werde. Aber dann erinnere ich mich wieder an die offensichtliche Tatsache – die ich wieder und wieder verstanden und doch nie ganz geglaubt habe, nicht einmal jetzt, im Flugzeug, wo die stille Landschaft unter uns dahinzieht –, dass nichts von alledem, ob kostbar oder nicht, je von irgendwem vermisst werden wird.)
Nina jedenfalls wurde an jenem Morgen zu unserer Komplizin, schlich in das Schlafzimmer, das sie nicht länger mit Alexander teilen würde, und drehte die Klimaanlage auf, damit er nicht hörte, wie wir die Unterlagen durchblätterten, in Notizbüchern herumschnüffelten, die Kameraausrüstung einpackten und die Kreditkarte einsteckten, von der Alexander alle Filmkosten abbuchen ließ. Was auch immer der Film letztendlich bewirken wird – und da ich es
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