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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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nicht selbst derjenige sein. Aber wer immer es ist, wird es dir zu verdanken haben. Du hast es denkbar gemacht. Du machst es mit jedem Tag wahrscheinlicher. Und damit du das weiterhin tun kannst, musst du am Leben bleiben.«
    Er schwieg. Am Leben, was hieß das schon? Er würde nie wieder wirklich am Leben sein – nie das berauschende Gefühl erleben, wenn ihm Windböen in die Lunge fuhren, nie in dem wilden, anonymen Glück schwelgen, jung und allein in einer gewaltigen Stadt zu sein. Es gab zwei Möglichkeiten, wie es enden würde, dachte er: Entweder beobachtete er am Ende das Leben durch die Panzerglasfenster des Kreml, oder er war am Ende tot. Er sah verschwommen vor sich, wie er, in einem reichverzierten Grab eingepfercht, griesgrämig zuhörte, wie das Leben in der Stadt über ihm und um ihn herum weiterlief. Es wäre ein verstecktes Grab, zum Schutz vor Vandalismus. Einmal im Monat käme Nina, säße im strömenden Regen da und begutachtete ihre Fingernägel.
    Aber nein, in Wirklichkeit wäre es anders. In Wirklichkeit würde er am Ende hier landen, genau hier – immer älter werdend und immer am selben Fenster. Vielleicht wüssten die Leute nicht, dass er noch am Leben war, wenn sie überhaupt an ihn dachten. Und irgendwann käme dann der Tag – wenn es wichtigere Anschlagsziele gab und Gras über seine Kampagnen gewachsen und er ein alter Mann geworden war, an den niemand mehr eine Kugel oder ein Komplott verschwenden wollte – an dem er wieder gefahrlos ausgehen konnte. Nur würde er es leider nie erfahren, wenn dieser Tag gekommen war.
    »Du kannst es dir nicht leisten, dich so zu benehmen«, sagte Irina. »Hör auf damit.«
    Er starrte aus dem Fenster, wo eine untertriebene Sonne höflich abwartete. Er starrte auf den Tisch, auf den Zettelstapel, der vorihm lag. Er starrte Irinas Hände an, eine halbe Armlänge von seinem Gesicht entfernt. Es waren robuste, unelegante Hände; unmanikürt, aber mit Fingern, denen man ansah, dass sie über Klaviertasten oder Schreibmaschinen geglitten waren. Auf diese Hände starrte er, das sollte er nie vergessen, weil er es nicht über sich brachte, Irina ins Gesicht zu sehen. Und dann, plötzlich, tat eine ihrer Hände einen Satz – man konnte es nicht anders sagen, weil sie so offensichtlich nicht mit Absicht bewegt worden war. Die Hand erhob sich in die Luft und platschte wieder herunter, schlaff und schwer, wie ein Frosch, der sich in einen Teich katapultierte. Irina wurde weiß wie eine Zwiebel und versteckte die Hände unter dem Tisch. Alexander starrte sie an.
    »Was war das?«, fragte er, obwohl er es wusste und obwohl es schrecklich war, diese Frage zu stellen, und noch schrecklicher, die Antwort hören zu müssen.
    »Es ist nichts«, sagte sie mit einer Stimme, die nicht wie ihre eigene klang.
    Er musste es gewusst haben, aber es mit eigenen Augen zu sehen war überraschend und grausig und um einiges schmerzhafter, als er erwartet hatte. Er hatte gedacht, die Unausweichlichkeit dieses Augenblicks hätte ihn irgendwie gegen seine Auswirkungen immun gemacht. Andererseits hatte er sein ganzes Leben mit dem Versuch – dem vergeblichen Versuch – zugebracht, sich mit dem Unausweichlichen abzufinden. Er wusste längst, dass das Unausweichliche oft auch das Schlimmste war; umso schlimmer, weil es sich so lange angekündigt hatte, weil es ein Ende war, das seiner eigenen Geschichte vorausging.
    »Irina«, sagte er. Er wollte ihre Hand ergreifen, aber sie ließ es nicht zu. Er konnte beinahe ihr gequältes, faustgroßes Herz flattern sehen. Er hörte ihren rauen, schneidenden Atem. »Ich habe es gesehen. Ich habe das eben gesehen. Das hast du nicht absichtlich gemacht.«
    Sie blickte zu Boden. Sie sah aus dem Fenster. Ihr Atem klang wie Flügelschläge. Ihr Gesicht sah wächsern aus, unwirklich fast,als sei sie der Versuch eines Hobbymalers, einen Menschen darzustellen. Es war einfach zu schrecklich, zu intim – zu sehen, wie diese arme Frau auseinanderfiel. Es war fast eine Art Ehre, eine Art Verpflichtung.
    »Das ist es, oder?«, fragte er.
    »Ja«, sagte sie. »Das ist es. Genau das, fürchte ich, ist es.«
    Er schüttelte instinktiv den Kopf, obwohl er wusste, dass er dabei aussah, als trauerte er um etwas Kleines, Albernes, über das man am ehesten »so ein Pech« sagen würde. Was war die angemessene Geste? Was war die angemessene Antwort? Er rückte seine Brille zurecht, in der Hoffnung, kompetent und professoral auszusehen. »Was genau bedeutet

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