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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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das?«
    Sie sah ihn finster an und schwieg. Er richtete sich in seinem Bürostuhl gerade auf. Irgendwo ganz hinten, in den verborgenen Kammern hinter seinem Gesicht – hinter den Wangenknochen und den Augenhöhlen, in jenem innersten Kern, von dem er immer das Gefühl gehabt hatte, er beobachte von dort aus die Ereignisse seines Lebens – spürte er die latente Drohung aufsteigender Tränen. Er hustete.
    »Tja«, sagte er schroff. »Hier kannst du selbstverständlich nicht bleiben. Die staatlichen Kliniken sind grauenvoll. Wir würden dir eine private bezahlen, aber in Amerika wäre es trotzdem besser für dich. Wir besorgen dir ein Flugticket nach Hause.«
    »Ich fahre nicht nach Hause.«
    »Irina, du musst. Du musst fahren.« Er war erleichtert, dieses Gespräch führen zu können – es war so enorm viel besser, über etwas zu debattieren, zu dem er feste Ansichten hatte und halbwegs selbstsicher Weisungen geben konnte. Es gab ihm einen festen Rahmen vor. Es begeisterte ihn, dass Irina nicht nach Hause wollte, denn damit konnte er sich ganz auf das Projekt konzentrieren, sie zu überzeugen.
    »Nein«, sagte sie. »Das kann ich nicht. Du verstehst das nicht.«
    Obwohl sie recht hatte – er verstand es wirklich nicht –, bedrängte er sie blindlings weiter.
    »Aber hast du denn niemanden dort?«, fragte er. Er wusste, dass sie Angehörige hatte und dass sein Ansatz verfehlt war. Er wusste, dass er, indem er dieses Thema anschnitt, mit jener achtlosen Grausamkeit handelte, die Menschen immer an sich haben, wenn die Umstände sie so überwältigen, dass sie lieber etwas Schreckliches sagen, als ganz zu schweigen.
    »Nein«, sagte sie. »Also, ja, doch, aber ich will nicht zu ihnen zurück. Darum geht es ja gerade. Darauf kommt es mir doch die ganze Zeit an.«
    Er wusste, dass sie hergekommen war, um wegzukommen – er wusste, dass es bei dieser Erfahrung teilweise darauf ankam, die überschüssige Energie eines verkürzten Lebens loszuwerden. Neben all den hehren Fragen nach Würde angesichts der Katastrophe hatte auch, vermutete er, der Sinn für Abenteuer eine kleine Rolle gespielt – für ein Abenteuer, das dieses eine kurze Leben zumindest ansatzweise von anderen, ähnlichen unterscheiden würde. Aber er hatte auch gedacht – wenn er überhaupt darüber nachdachte, was so selten geschah, wie sein Mitgefühl es irgend zuließ –, es sei in gewisser Weise nur ein Bluff. Er hatte gedacht, wenn die Krankheit sie einholte – wenn sie über den Nordpol hinwegfegte, über die Aleuten Himmel-und-Hölle spielte, in einem ratternden alten Zug quer durch den Kaukasus fuhr oder auch Erster Klasse über die blinkenden Hauptstädte der Ersten Welt hinwegflog – wenn die Krankheit sie holen kam, dass Irina ihr zurück nach Hause folgen würde. Alles andere wäre Wahnsinn. Und er ertappte sich bei dem Gedanken, dass es außerdem in gewisser Weise egoistisch wäre: Warum sollte er Zeuge einer Tragödie werden, um die er nie gebeten hatte? Warum sollte er dafür verantwortlich sein, sich darum zu kümmern?
    »Irina«, sagte er ärgerlich. »Sei doch vernünftig.«
    Irina schwieg. Sie stand auf und trat ans Fenster: Draußen fuhr ein frischer Wind durch die Baumkronen. Alexander hörte das pfeifende Geräusch, mit dem sie sich bogen.
    »Warum hast du mir vertraut?«, fragte sie mit dem Gesicht zum Fenster.
    »Dir vertraut?«
    »Ganz am Anfang. Als ich hier aufgetaucht bin. Hast du nicht gedacht, ich könnte eine Doppelagentin sein oder so? Hast du nicht gedacht, ich könnte versuchen, dich auszuhorchen?«
    »Jedenfalls nicht für die Amerikaner. Wenn sie etwas von mir wissen wollen, brauchen sie nur zu fragen.«
    Sie drehte sich um. »Nein, für Putin. Oder für … ich weiß nicht; für irgendwen eben. Oder ich hätte eine Attentäterin sein können oder eine Verrückte, eine Stalkerin vielleicht, die sich eine Tonne Fotos von dir aus dem Internet ausgedruckt hat.«
    »Das wäre ganz schön eingebildet von mir.«
    »Ich meine – du bist immer so vorsichtig. So zurückhaltend. Du isst kein Gebäck von Straßenhändlern. Du gehst nie aus.«
    Er lehnte sich zurück. »Manchmal gehe ich schon aus.«
    »Du weißt, was ich meine. Du passt eben auf. Das … das ist richtig so. Das solltest du auch. Warum hast du mich dann hier arbeiten lassen? Woher hast du gewusst, dass ich nicht vorhatte, dich zu erledigen?«
    »Ich weiß es nicht.« Er massierte sich die Schläfen. »Vielleicht habe ich gehofft, du würdest es tun.«
    »Was

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