Das Leben ist groß
meinst du bloß damit?«
»Ich weiß nicht«, sagte er. »Vielleicht wäre es eine Erleichterung gewesen.«
Irina lächelte schief. »Das glaubst du vielleicht, aber es stimmt nicht. Das wäre es nicht gewesen.«
Alexander zog sie zu sich heran. Ihr knochiger Rücken fühlte sich zerbrechlich an, und er dachte an die Tochter, die sie einmal einem Vater gewesen war, und er dachte an die Tochter, die er selbst hätte haben können, wenn sein Leben anders verlaufen wäre. Er glaubte ihr, doch er brachte es nicht über sich, das zu sagen. Also beschloss er, lieber ganz zu schweigen.
In jener Nacht lag Alexander wach, dachte an Irina und lauschte auf Ninas flache Atemzüge. Nina schien nie ganz bewusstlos zusein – ihr Atem klang immer ein klein wenig wach, als täusche sie den Schlaf nur vor oder stelle sich tot. Sie lag oben auf der Bettdecke, und er betrachtete die strenge Rundung ihres Beckens, die unnachgiebige Kontur ihrer Rippenbögen. Ein nacktes Bein war über das andere geschlagen; sie sahen wie pirouettierende Knochen aus. Das Mondlicht ließ Nina beinahe durchsichtig erscheinen – sie erinnerte ihn abschreckenderweise an eine Tiefseekreatur, die sich unter dem Einfluss der Tiefe, des Drucks und der Evolution in einen skelettierten, phosphoreszierenden Alien verwandelt hatte.
»Nina«, sagte er. »Die Amerikanerin stirbt.«
Das war nicht sein einziges Problem. Mischas Wutausbruch in der Nowaja Gaseta machte ihm zu schaffen; er hatte Alexander schachmatt gesetzt, wie es schien, und jetzt wäre jeder weitere Zug selbstmörderisch – wobei eine der Optionen körperlicher und die andere politischer Selbstmord wäre. Mischa hatte einen ziemlich klugen Zug zuwege gebracht, wobei Alexander immer gewusst hatte, dass er ein kluger Kopf war. Er wusste auch, warum Mischas Kapriolen ihn so empfindlich getroffen hatten. Wann immer er Mischa vor sich sah, hörte er die wütend gezischte Anschuldigung, damals sei der bessere Mann gestorben, und das sei Russlands großes Unglück. Die Toten oder Sterbenden waren immer so viel tugendhafter als die Lebenden – selbst wenn sie zu Lebzeiten kleinlich oder hartherzig, engstirnig oder eitel gewesen waren, übermütig oder verängstigt. Mischa schien zu glauben, und Alexander war geneigt, ihm darin recht zu geben, dass es mit Iwan alles anders verlaufen wäre. Iwan wäre auf die Straße gegangen und hätte die Truppen motiviert, ob mit Sicherheitsapparat oder ohne. Iwan wäre nach Perm gefahren. Iwan hätte vielleicht inzwischen gewonnen. Was hatte Alexander schließlich vorzuweisen? Was hatte er mit seiner Kampagne erreicht? Er hatte an einer Handvoll Nachmittage eine Handvoll öffentlicher Plätze gefüllt. Er hatte einer Todkranken auf unerklärliche Weise ein wenig Befriedigung verschafft. Und er hatte ein paar Stunden Unterhaltung für international interessierte Fernsehzuschauer geboten, die das Ganze sokurzweilig fanden wie eine Schachpartie. Er konnte von Glück sagen, wenn Putin seinetwegen eine einzige schlaflose Nacht oder eine Verdauungsstörung erlitten hatte.
Er musste nach Perm. Morgen früh würde er sich in den ersten Flieger setzen. Er musste es tun. Es führte kein Weg daran vorbei.
»Nina«, flüsterte er. »Ich gehe morgen weg.« Sie antwortete nicht. Vielleicht schlief sie wirklich. Oder vielleicht hörte sie ihm einfach nicht mehr zu.
Er erwachte von einem Rumpeln im zweiten Schlafzimmer. Als er nachsehen ging, sortierte Nina gerade ihre Kleider – ein polychromer textiler Fächer breitete sich über die Tagesdecke: glänzende Blusen und Röcke mit Rüschen und mysteriösen Elementen, für die Alexander keinen Namen wusste; Tops in allen erdenklichen Farbgradationen; Kleider in komplizierten und unaussprechlich scheußlichen Mustern. Das tat sie öfter: Stundenlang sortierte und inspizierte sie, hielt einzelne Teile ins Licht und runzelte die Stirn, als seien diese Kleidungsstücke – wie alles andere auch – nicht halb so schön, wie sie sie in Erinnerung gehabt hatte.
»Du bist ja wach«, sagte Nina. »Würdest du mir wohl den Koffer da geben?«
»Was machst du da?« Er hievte den Koffer aus den Tiefen des Kleiderschranks hervor. »Den brauche ich für Perm, weißt du.«
»Sie sind ohne dich gefahren«, sagte sie. »Viktor und die Amerikanerin. Wenn ich das richtig sehe, haben sie umgebucht. Sie sind mitten in der Nacht los. Sie hat einen Zettel dagelassen. Keine Ahnung, warum.«
»Was?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Sieht so aus, als
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