Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
Vom Netzwerk:
nie sicher wissen werde, spekuliere ich umso eifriger darüber –, Russland wird sein Zustandekommen unter anderem auch Nina zu verdanken haben.
    Dann rasten wir durch die frühmorgendliche Stadt. In der Ferne hielten sich noch dunkle Flecken am Himmel, und die Sterne erblassten wie das Gesicht eines Menschen, der Angst hat und beschließt, sich nichts anmerken zu lassen. Ich lächelte Viktor im Halbdunkel zu, obwohl er es wahrscheinlich nicht erkennen konnte.
    Hier, im Flugzeug, füge ich auch das meinem Katalog der Dankbarkeit hinzu, irgendwo zwischen dem Sandwich und der Symphonie: das Gefühl, sehr früh aufzustehen, um etwas sehr Wichtiges zu tun.
    Die Triebwerke surrten schon, als wir Alexander auf das Rollfeld laufen sahen. Er war mit ungeahnter Geschwindigkeit unterwegs; aus der Entfernung wirkte er gesetzter, älter als von nahem, wenn er ungeduldig gestikulierte oder sprachgymnastische Höchstleistungen vollführte. Ein neon-orange gekleideter Flughafenangestellter hielt ihn an und schickte ihn unerbittlich wieder zurück. Wir konnten gerade noch die wütende Kurve seines Nackens erkennen und erschauderten bei der Vorstellung, was für Worte er wohl gerade von sich gab. Aber das Flugzeug setzte sich in Bewegung, und Alexander blieb kleiner und kleiner hinter uns zurück. Und wir wussten, was zu tun war.
    Er konnte am nächsten Tag, mit dem nächsten Flugzeug nachkommen. Natürlich konnte er das, und das wussten wir auch. Aber ich hatte seine Kiste voller Morddrohungen gesehen und hatte erlebt, wie er sie anstarrte. Ich wusste, dass wir ihm mit dem, was wir vorhatten, die Möglichkeit ließen, uns nicht zu folgen.
    Viktor und ich sahen einander im Flugzeug schweigend an. Ich vermute, dass Viktor sich fragte, worauf er sich da eingelassen hatte – ob er seinen Job verlieren würde; ob er eines Tages, in einem weiseren, enthaltsameren Alter auf diesen Augenblick als diejenige Fehlentscheidung zurückblicken würde, von der ab alles katastrophal schiefgegangen war. Ich hatte solche Sorgen nicht mehr. Ich wusste nicht, wie diese Reise verlaufen würde, was dabei herauskäme oder ob sie ein Fehler war. Aber ich wusste, dass ich vonkeinem entlegenen Standpunkt aus je mit irgendwelchen Gefühlen – Stolz oder Reue oder Trauer oder Schuld oder triefäugiger Nostalgie – auf sie zurückblicken würde. Die Person, die ich jetzt war, würde ich immer bleiben. Und was ich tat, mussten andere einst bewundern, verachten oder korrigieren.
    Die Landschaft unter uns wurde allmählich ländlicher: matte beigefarbene und eierschalenfarbene Flächen; die Ballungen kleiner Dörfer; langgestreckte Felder voller Phlox oder Silbergras, von vereinzelten Bächen wie von Adern durchzogen. Ich habe es schon immer geliebt, zu fliegen und zuzusehen, wie sich die Welt in ihre einfachsten Bestandteile auflöst: reine, gedämpfte Farben; klare geometrische Muster. Wenn man vom Flugzeug aus auf alles herabsieht, fällt es schwer, irgendetwas allzu ernst oder zu schwer zu nehmen. Von oben sehen die Welt als Ganzes und ihre vielen wimmelnden Zivilisationen nicht komplexer als eine Serie von Höhlenmalereien aus.
    Ich dachte an meinen Flug nach Moskau vor so vielen Monaten zurück. Die Person, die ich vor meiner Ankunft in Russland gewesen war, die durch Cambridge spaziert war, sich verliebt hatte und zum Zeitvertreib mit einem seltsamen Schweden Schach spielte – diese Person kam mir so weit entfernt vor, als sei sie eine Erinnerung an ein früheres Leben oder eine Zwillingsschwester, mit der ich eine störanfällige und doch beständige parapsychologische Verbindung unterhielt. Ich blickte auf diese Person – auf dieses Leben – mit einem Gefühl zurück, das an Gleichgültigkeit grenzte. Ich erkannte durchaus an, dass da etwas Wichtiges gewesen war und dass es Erinnerungen gegeben hatte, an die die andere Frau sich geklammert hatte, wie wir alle an unseren geliebten kleinen Souvenirs festhalten. Aber diese Frau war nicht länger ich. Oder wenn doch, würde sie es nicht mehr lange sein.
    Nach den ersten paar Flugminuten drehte Viktor sich zu mir um und starrte mich lange und beunruhigend an.
    »Ja?«, sagte ich. »Was ist? Hast du Bedenken? Dafür ist es jetzt zu spät.«
    Er starrte immer noch, so lange, dass ich mich zu fragen begann, was Alexander ihm über mich verraten hatte.
    »Also, jetzt, wo wir zusammen in dieser Sache drinhängen, gibt es ein paar Dinge, die ich wissen muss«, sagte er.
    »Okay«, sagte ich zögernd. Ich

Weitere Kostenlose Bücher