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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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dachte ich dann. Wie konnte ich das Leben so an mir vorbeiziehen lassen?
    Ich lasse mich in meinen Sitz zurücksinken, und ich fühle, wie das Flugzeug sich aufschwingt, spüre seine Widerstandskraft gegen die sirrende Kälte, das unerbittliche Blau. Der Pilot lässt die Maschine sich in die Kurve legen, und wir werfen einen unglaublich detaillierten Schatten auf die Landschaft; wir sehen wie die Ankunft eines mythischen Vogels oder eines rachsüchtigen Gottes aus. Unter uns muss irgendwo zerwühltes Gras die Erde streifen, brodeln aufgebrachte, blass geränderte Blätter im Wind. Aber wir sehen diese Dinge nicht mehr.
    Ich glaube, auch wenn ich mir nicht sicher bin, dass meine Hände stärker zittern als normal, dass sie sich immer ungenierter in Eigenregie fortbewegen. Ich sehe zu. Ich lege meine Hände auf den Falttisch, und sie beben und zucken.
    Aber wer weiß, vielleicht ist es gar nicht pathologisch. Es könnte einfach ein Zeichen der Ehrfurcht sein. Vielleicht ist es einfach die Schönheit des Himmels und der Wolken – das Wunder eines frühen Morgens, die Häresie der Luftfahrt.

KAPITEL 21
    Alexander
    St. Petersburg, Sommer 2007 bis Frühjahr 2008
    Letztendlich konnte er es sich nur vorstellen. Wissen würde er es nie, nicht genau jedenfalls, was geschehen war, oder wie es geschah, oder wie Irina und Viktor und die anderen es erlebten, einundzwanzig insgesamt, deren Namen und Nationalitäten Wochen später in winzigen Lettern in der Zeitung standen, als man die Suche eingestellt, das Gepäck zugeordnet und die Passagierliste bestätigt hatte. Er weiß es nicht, also wird er es sich vorstellen müssen.
    Es war eine Bombe – eine kleine nur, von den effizienten Leuten des FSB ausgetüftelt, ein zischendes Knäuel aus Fasern und Feuer, das man leicht für einen technischen Defekt halten konnte. Er weiß es nicht, also muss er raten, dass sie kurz vor Helsinki waren – gleich hinter der Küste vielleicht, über der gischtenden, trüben Finnischen Bucht. Sie wollten gerade wenden, um den Flughafen anzusteuern. (Das, stellt er sich vor, war ein Fehler. Wäre die Bombe nur ein paar Augenblicke zu spät detoniert – oder wäre das Flugzeug außerplanmäßig früh angekommen –, dann hätte es leicht zu einem Absturz über der Stadt kommen können, was sehr viel mehr Schwierigkeiten gemacht und wahrscheinlich mehr Fragen aufgeworfen hätte.)
    Sie dachten, Alexander sei an Bord, weil Mischa suggeriert hatte, es könnte so sein; vielleicht hatten sie Irina und Viktor in Perm verfolgt, und möglicherweise war ihnen aufgefallen, dass Alexander nicht dabei zu sein schien, aber sie glaubten vielleicht, er sei untergetaucht oder inkognito unterwegs oder läge im Kofferraum. Es gab hinreichend Grund zu glauben, er sei an Bord, also glaubten sie es, obwohl er aus genau diesen Gründen nie, niemals mit russischen Fluglinien flog, und obwohl sein Name nicht auf der Passagierliste stand. Vielleicht dachten sie, er hätte ein Pseudonym benutzt. Vielleicht hatten sie beschlossen, es darauf ankommen zulassen. Und einen Monat danach, als Alexander seine Kreditkartenabrechnung bekam – mit den Hotelbuchungen, dem Zimmerservice und dem Alkohol, lauter Zahlungen in Perm, die alle seine Anwesenheit dort belegten –, starrte er sie lange nur an, bevor er anrief, um die Karte sperren zu lassen.
    Letztendlich war es ein kalkulierbares Risiko. Ein Fehlschlag, mussten sie beschlossen haben, wäre wenig wert. Und ein Erfolg ziemlich viel.
    Im Flugzeug, stellt Alexander sich vor, stürzten sie dreihundert Meter pro Sekunde, und es war das übliche Szenario: Herabbaumelnde Sauerstoffmasken und Flugbegleiter, die Kopf runter, runter! schrien. Menschen, die sich an Wildfremde klammerten, weil die soziale Etikette plötzlich, gewaltsam außer Kraft gesetzt war. Sie beteten in sechs Muttersprachen. Sie zitterten, weinten, übergaben sich. Hatte Irina Angst? Natürlich hatte sie Angst. Aber das Besondere war (denkt er, hofft er): Sie war es gewohnt.
    Sie schossen auf das Wasser zu, und im Cockpit herrschte ein grauenvolles Schweigen, und dann fiel das Flugzeug auseinander – ein großes Auflösen in die Bestandteile, das auch Teile von Menschenleben mit sich riss. Die Fenster barsten, und Magazine und Kaugummipapiere, Teddybären und Zahnbürsten, Lidschattendöschen und Rosenkränze und Politikzeitschriften wurden hinaus und ins Wasser gefegt. Die Koffer versanken, und was später wieder zutage kam, war absurd und banal – Tennisschuhe,

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