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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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war ich selbst dort im Auto, als jede Neugier auf die Zukunft beinahe ein selbstmörderischer Impuls war, gespannt, was als Nächstes geschehen würde.
    Draußen vor den Fenstern leuchtete ein anämischer Mond. Ich lehnte mich in den Sitz zurück und spürte, wie mir das Blut heiß und flüchtig durch das Rückenmark pulsierte.
    Um zwanzig nach sechs am Morgen geht unser Rückflug. Als wir zum Flughafen fahren, beginnt der Himmel gerade erst sein Licht zu verströmen, das mit glühenden, ausgestreckten Armen durch kleine Nadelstiche in der Wolkendecke bricht. Die Welt ist seltsamer und schöner, als es sich je jemand im Vorhinein vorstellen könnte. Mich überkommt eine unermessliche Dankbarkeit dafür, dass ich einen Teil davon zu Gesicht bekommen habe.
    Letzte Nacht hat Viktor in unserem Zimmer im Hostel das Dokument abgefilmt. Er hat es beinahe ehrfürchtig in der Hand gehalten, als sei es ein Liebesbrief oder eine Schriftrolle vom Toten Meer, und hat jede inkriminierende Stelle einzeln angezoomt. Dann hat er das Video zusammen mit den wenigen Aufnahmen von Leutnant Andrei Simonow per Mail an Alexander verschickt. Zu guter Letzt hat er noch das gesamte Dokument eingescannt und mit angehängt. »Und wer weiß?«, hat er gesagt, als er den Computer heruntergefahren hat. »Vielleicht bringen wir ihm auch noch das Original.«
    Auf dem halben Weg zum Flughafen sieht es aus, als verfolgte uns jemand. Ein weißes Auto, imposant wie ein gestrandeter Wal, wechselt hinter uns die Spuren und scheint einen Kontrapunkt auf unsere Bewegungen zu spielen – es bremst und beschleunigt genauso wie wir. Ich sehe mit hochgezogenen Augenbrauen zu Viktorhinüber, aber er ist mir weit voraus. Er beschleunigt, bremst, überholt und wechselt die Spur. Zehn Meter hinter uns macht das große weiße Auto jede unserer Bewegungen nach.
    »Sie verfolgen uns«, sage ich.
    Er hält seinen Blick auf die Straße gerichtet. »Das könnten sie sich auch sparen. Wir fahren doch offensichtlich zum Flughafen. Wo sollten wir sonst hin?«
    Und so ist es, wenn man von einem großen weißen Auto verfolgt wird: Es bleibt einem nichts übrig, als weiterzufahren, selbst wenn man weiß, dass es hinter einem her ist.
    Wir stehen am Check-in. Das Licht bricht sich in den riesigen Panoramafenstern und rutscht angeknackst und splitternd über die Bodenfliesen. Wir warten, aber inzwischen scheinen wir allein zu sein. Auf einem Fernsehbildschirm spricht Putin über Alexander; er sagt, seine Kandidatur sei rechtswidrig, lächerlich und kaum der Rede wert – nächste Frage, bitte.
    Wir steigen ins Flugzeug, und Viktor überlässt mir den Fensterplatz. Der Flieger ist fast leer, stelle ich dankbar fest. Die Motoren ziehen an, und wir sind unterwegs – wir heben ab, und ich sehe unter mir das heillose Blau der Kama, die sich um die Stadt herumwindet. Ich sehe auf diesen rätselhaften, in Teilen vertrauten Ort herab und denke an die vielen anderen, die sich halbkonturiert in den Nischen meines Bewusstseins verstecken: die blendenden Wirbel aus Licht über den Anden; die geschlängelten, skulpturalen Dünen in Namibia; die uralten Städte, in denen Überreste aus Tausenden Jahren liegen geblieben sind – als der Vulkan ausbrach, als die Stadt geplündert wurde oder als die Pest durch die Straßen fegte und binnen einer Woche die halbe Stadt entvölkerte. Es gibt so vieles, das ich nicht gesehen habe. Aber es gibt auch Dinge, die habe ich gesehen. Vielleicht ist es genug, eine Zeitlang auf der Welt zu sein, selbst wenn man nie alles erlebt. Vielleicht ist es genug. Mir jedenfalls wird es reichen müssen.
    Ich freue mich auf meine Rückkehr nach Petersburg, stelle ich fest, in die Stadt, die sich nie ganz fremd angefühlt hat, obwohlich in ihr, wie überall sonst, eine Fremde war. Es ist keine originelle Beobachtung, aber sie überkommt mich mit einem Mal – wie bitterschön es ist, sich auf etwas so Einfaches zu freuen wie ein paar Schlucke von einer anderen Sorte Luft. Und irgendwo hinter meinem Herzen erklingt die Fermate eines Gefühls – eine leichte Hebung, dann ein Fallen, das sich nicht wie eine Auflösung anfühlt. Ich kneife die Augen zu, und dann öffne ich sie wieder und sehe zur Erde hinunter – mit jedem Blinzeln ist sie exponentiell weiter und weiter entfernt, mit jedem Herzschlag und Atemzug. So habe ich mich immer an Geburtstagen gefühlt, als ich jünger war, aber den Preis eines vergangenen Jahres schon kannte. Wie konnte ich das geschehen lassen?,

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