Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
Vom Netzwerk:
gesamte Aufmerksamkeit zu tragen, welche die schwarze Kleidung darauf lenkte. Es war ein Auftritt wie ein Trommelwirbel.
    »Bist du Sonja oder die andere?«, fragte Alexander. Er wusste den anderen Namen nicht mehr und wusste auch nicht, was wahre Erinnerungen waren und welche er sich nur ausgedacht hatte. Prostituierte waren sie wirklich, dachte Alexander. Ob sie wirklich einen Wellensittich hatten, war eine andere Frage.
    »Ich bin die andere. Elisabeta Nasarowna.« Sie lehnte resigniert ihren Kopf an die Tür. »Ich glaube, sie ist nicht da.«
    »Ich heiße Alexander Kimowitsch Besetow.«
    »Auch gut«, sagte sie, ohne ihm die Hand zu geben. Stattdessen wandte sie sich wieder der Tür zu und begann mit leiser Stimme Unflätigkeiten hervorzustoßen. »Du Schlampe. Du Hexe. Du verlogene, miese kollaborative Drecksau.« Sie hielt inne, und Alexander fragte sich, ob ihr die Beleidigungen ausgegangen waren.
    »Solltest du nicht vielleicht versuchen, nett zu ihr zu sein?«, fragte er. Vielleicht würde die Verwalterin Elisabeta das Zimmer kündigen oder ihre Habe aus dem Haus werfen wie bei dem Universitätsdozenten. Er stellte sich Elisabetas über den Vorgarten verteilte Besitztümer vor: Bücher und Parfümflakons, schwarze Kleidung, silbernen Schmuck.
    »Quatsch. Die verkauft jedes Jahr Wintersachen aus dem Keller. Ich weiß es, weil ich meine Handschuhe von ihr habe. Sie ist wie eine Spinne. Hat mehr Angst vor uns als umgekehrt.« Wiederwandte sie sich der Tür zu. »Und wie eine Spinne«, zischte sie, »verkriechst du dich den ganzen Tag in dunklen Ecken, bist ein widerlicher Anblick, und alle hassen dich. Übrigens«, sie drehte sich zu Alexander um, »rauchst du?«
    »Zigaretten?«
    »Ja.« Jetzt würde er damit anfangen müssen.
    Elisabeta nickte. »Sonja und ich tun nämlich nichts anderes, als zu rauchen und Lügen zu erzählen. Wenn du uns dabei Gesellschaft leisten willst, nur zu. Ich weiß, dass du nichts zu tun hast.«
    »Aber ich habe zu tun. Ich bin an der Akademie. Ich trainiere«, sagte er. Er hatte noch nie versucht, jemanden mit seinem Talent zu beeindrucken, und merkte selbst, wie schlecht es ihm gelang. Er räusperte sich, fixierte einen Punkt knapp oberhalb von Elisabetas Kopf und bemühte sich, intellektuell, beschäftigt und tiefgründig zu wirken. »Das Schachspiel hält mich ganz schön in Atem.«
    »Klar«, sagte sie. »Dann also, wenn du mal einen Moment Zeit hast.« Hinter der Zimmertür waren Geräusche zu hören, ärgerliches Gemurmel und Geraschel. Grelles Licht drang unter dem Türspalt hervor und durch die Ritzen. Die Alte begann sich zu regen.
    »Endlich, du Missgeburt«, murmelte Elisabeta, und dann säuselte sie: »Babuschka? Poschaluista? Bitte, Mütterchen, hier ist deine Mieterin Elisabeta mit einer Frage. Vielleicht springen auch ein paar Rubel dabei heraus.«
    Bei diesen Worten öffnete die Verwalterin die Tür. Ihr fahles, behaartes Gesicht blinzelte verkniffen und giftig in den Flur hinaus. Um den Kopf hatte sie sich einen rostroten Schal geschlungen und roch nach billigem Tee und freudlosen Nächten.
    »Was?«, schnauzte sie und starrte Alexander an, der rasch beiseitetrat. »Was gibt es, in Gottes Namen?«
    »Maden im Wasserhahn, Babuschka«, sagte Elisabeta. »Bitte entschuldige die Störung. Ich weiß, wie beschäftigt du bist.« Sie blinzelte Alexander zu.
    »Allerdings«, sagte die Alte und verschwand wieder in ihrer Wohnung, vermutlich, um das für Maden benötigte Werkzeug zu holen.
    Elisabeta lächelte und zuckte mit den Schultern. »Vergiss nicht«, raunte sie Alexander zu. »Zimmer neun, wenn du Lust auf Zigaretten und ein bisschen Abwechslung bekommst. Vielen Dank, Babuschka!«, rief sie. »Ich bin so dankbar für deine Hilfe!«
    »Gut«, sagte Alexander, lauschte im Gehen ihren blanken Lügen und staunte, wie routiniert sie Gefühle vortäuschte, die sie nicht empfand.
    Nach einer kalten Dusche – den Warmwasserhahn hatte er gar nicht erst angerührt – und einem Tag voller lähmender Erschöpfung und dummer Fehler in der Schachakademie kehrte Alexander in sein Zimmer zurück und legte sich auf sein Bett. Es war erst fünf, doch wie immer schon dunkel, und sein Bett fühlte sich nach der langen Abwesenheit noch kälter an als sonst. Er dachte kurz an Elisabeta, wie sie sich in Zimmer neun auf die Nacht vorbereitete, und fragte sich, ob er hinübergehen, nach einer Zigarette fragen und sich erkundigen sollte, wie die Sache mit den Maden ausgegangen war.

Weitere Kostenlose Bücher