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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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den Straßenecken und hielten nach der Polizei Ausschau, damit ihre Familien rechtzeitigdie Ware zusammenraffen und fliehen konnten. Sie verschwanden so rasch wie die lichtscheuen Kakerlaken in der Kommunalka, wie einer, der in ein Auto steigt und nie mehr wiederkehrt.
    Alexander ging den Newski-Prospekt entlang, am Museum für die Geschichte der Religion und des Atheismus vorüber. Leningrad war so ganz anders als Ocha, dies gesichtslose Kaff, das niemand gewollt oder geplant hatte. Leningrad strotzte vor weiser Voraussicht und geometrischer Präzision – der steingewordene Beweis, dass auch Russen mehr als eine Generation vorausplanen konnten. Es war eine schöne Stadt, wenn man im beißenden Wind lange genug die Augen aufbekam, um richtig hinzusehen. Doch Alexander sah auf seinem Heimweg von dem ersten Abend mit Iwan und Nikolai kaum von seinen Füßen hoch. Die neue Stadt, dachte er, hielt neue Bedrohungen für ihn bereit, subtiler und heimtückischer als KGB-Männer in weißen Wolgas. In Ocha hatte er die Spielregeln beherrscht; er war die Begrenzungen seines Lebensraums so oft abgeschritten, dass er selbst im Traum nicht daran dachte, sie zu überschreiten. Er hatte dort alle und jeden gekannt, jedermanns Großeltern, Pockennarben und lehmige Gemüsegärten, und wenn es Andersdenkende gegeben hätte, dann hätte er auch das gewusst.
    In Leningrad, das begriff er jetzt, war es anders. Er war nie zuvor auf die Idee gekommen, sich vor alten Leuten zu fürchten, die Papier sammelten. Er hatte nie Angst vor den Rosenverkäuferinnen an den Straßenecken gehabt.
    Als Alexander nach Hause kam, stand eins der Nachtmädchen im Flur, und der Schnee an ihren Stiefeln gerann zu öligen Flecken auf dem Teppichboden. Sie pochte heftig an die Zimmertür der Verwalterin, was seit Alexanders Ankunft noch nie geschehen war. Er blieb stehen, um zu sehen, was dabei herauskommen würde.
    »Was gibt es da zu gucken?«, raunzte ihn das Mädchen an. Sie hatte dunklere Haare als die andere, und Alexander hatte sie schon oft im Flur laut fluchen gehört. Der Familienvater aus dem Nebenzimmerhatte sich schon einmal darüber beschwert, während er sich zu Alexander hinüberbeugte und in sein Waschbecken spuckte. »Es gefällt mir nicht, dass mein Kind Tür an Tür mit Bljadi aufwachsen muss«, sagte der Mann. »Es wird ihn dazu treiben, Fragen zu stellen, und je weniger Fragen er stellt, desto besser für ihn.«
    Das Mädchen schnipste vor Alexanders Gesicht mit den Fingern. »Also, was?«, sagte sie. »Kannst du nicht sprechen?«
    »Ich kann sprechen.«
    »Ach.« Sie sah enttäuscht aus. »Dann habe ich eine Wette verloren.«
    »Was machst du da?«, fragte Alexander. »Soweit ich weiß, kommt sie morgens nicht an die Tür.«
    »Heute Morgen muss sie kommen. Mir egal, wie verkatert sie ist. Da waren Maden im Wasserhahn. So geht es nicht.«
    »Was für Maden?«
    »Was für Maden? Wen zur Hölle interessiert das? Ich habe das warme Wasser angedreht. Ich bin es gewohnt, dass keins kommt. Das hätte mich nicht überrascht. Wir kennen uns nicht, Towarischtsch, aber es gibt nicht vieles, das mich überrascht. Aber Maden? Das geht zu weit.« Ihr braunes Haar wogte ihr ins Gesicht, und sie fegte es so unwirsch beiseite, dass Alexander am liebsten dazwischengegangen wäre, um sie vor sich selbst zu schützen.
    »Ja«, sagte er. »Das geht zu weit.«
    »Also habe ich mir gedacht, ich unterhalte mich mal mit der alten Dame.« Sie hämmerte weiter auf die Tür ein, mit scharfen, unrhythmischen, möglichst nervtötenden Stößen. »Schließlich habe ich eine lange Nacht hinter mir. Ich arbeite nachts, weißt du?«
    »Ich weiß.«
    »Du weißt es.« Sie hämmerte noch lauter. »Natürlich weißt du es. Genauso wie ich weiß, dass du das Schachwunder aus Sibirien bist, das …«
    »Aus Sachalin.«
    »Auch gut«, sagte sie.
    Trotz allem erstaunte es Alexander, wie rasend empört sie war.Sie klopfte an die Tür wie jemand, dem ein furchtbares Unrecht widerfahren war. Maden im Badezimmer waren schlimm, keine Frage. Doch sie hatte sicher Schlimmeres erlebt.
    »Welche bist du?«, fragte er.
    »Was?« Sie drehte sich nach ihm um, und er hörte das leise Klimpern und Klackern dieser Bewegung, das unverwechselbar weibliche Geräusch von hohen Absätzen und Schmuck. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, doch das Ensemble schien aus mehreren Schichten zu bestehen – vielleicht aus Bluse, Jacke und Rock? Ihr Gesicht war hübsch, wenn auch nicht hübsch genug, um die

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