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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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wechselte. Irgendwann begannen wir, rein hypothetisch über die relativ kurzfristige Zukunft zu sprechen. Und da begriff ich – oder erinnerte mich daran –, dass ich ein Problem hatte.
    Ich rief ihn nicht mehr an. Seine Anrufe ließ ich auf meinem Anrufbeantworter landen, obwohl mir die Vorstellung nicht gefiel, dass meine dämliche Anrufbeantworterstimme, so anbiedernd und piepsig wie Schlumpfine auf dem Straßenstrich, ihm wieder und wieder denselben Spruch aufsagte.
    Bevor ich aus Versehen eine Beziehung zu Jonathan eingegangen war, hatte ich sorgfältig jede Form von romantischer Annäherung vermieden. Dieses Tabu war kein bloßes Gehabe von mir und nicht das Resultat einer mutwillig herbeigeführten sozialen Isolation. Es war der Versuch, mir den Freiraum zu schaffen, in dem ich mit meiner Situation fertig werden konnte, ohne dass jemand zusah. Der Versuch, nicht verrückt zu werden. Und – nicht zu vergessen – es war mein kleiner, armseliger, egoistischer Versuch, selbstlos zu sein.
    Ich erinnerte mich daran, wie ich meinen Vater im Schach besiegt hatte. Man kann nicht sagen, dass ich an dem Tag aufhörte, ihn zu kennen, doch ich fing zumindest an aufzuhören. Ich fragte mich, wie der entsprechende Tag bei mir aussehen und was meine Abschiedsgeste werden würde. Und ich fragte mich, ob ich wirklich wollte, dass Jonathan sie sah.
    Von da an träumte ich davon wegzulaufen. Ich stellte mir vor, durch die Kopfsteinpflasterstraßen europäischer Städte zu wandern, und sah mich auf dem Rücken eines Kamels vor einem klaren blauen Wüstenhimmel. Ich suchte nach einem Ausweg, irgendeiner Lösung, die es mir erlauben würde, bei Jonathan zu bleiben, ihn zurückzurufen, ihn zu lieben, ohne an den Tag zu denken, andem nicht mehr ich es war, die ihn liebte, weil es dieses Ich nicht mehr gab.
    Ich hatte es ihm noch immer nicht erzählt.
    Weil ich es nicht fertigbrachte, es ihm zu erzählen, musste ich es ihm zeigen. Ich nahm Jonathan mit zu meinem Vater.
    Im Auto erklärte ich ihm alles. Ich erzählte, dass das Schicksal, das ich mit meinem Vater teilte, keineswegs einzigartig war – vielleicht ist es ganz im Gegenteil als einziges wahrhaft universell. Immerhin ist der Tod universell. Auch dass wir den Verstand verlieren, ist nichts Besonderes – jeder tut es, nur dass einige ihren Verstand im Augenblick des Todes verlieren und andere davor. Alles, was wir verpassen, sind dreißig oder vierzig Jahre. Wenn man unsere Lebenszeit mit der unsagbaren Anzahl von Jahren vergleicht, die wir tot sind, machen dreißig bis vierzig Jahre keinen großen Unterschied. Doch wenn es die eigene Lebenszeit ist, mit den eigenen Erlebnissen angefüllt, kommt man nicht ganz umhin, ihnen eine unverhältnismäßige Bedeutung zuzumessen.
    Ich erzählte ihm von den Nukleotiden, dem Gentest und der Prognose. Ich erklärte, dass die Atrophierung der Basalganglien etliche Jahre vor dem Auftreten der ersten Symptome beginnt und dass schon jetzt – in eben dem Moment, im Auto – Teile meines Gehirns sich zersetzten, Teile, von denen ich nicht einmal ahnte, wofür ich sie brauchte, und die doch unwiederbringlich verloren waren. Ich sagte, dass ich keiner meiner Emotionen, keinem Impuls, keiner Geste je ganz trauen konnte, dass eines Tages – wenn ich es zuließ – alles, was ich tat, sagte und dachte nichts weiter sein würde als die entropische Implosion eines abbruchreifen Gebäudes oder eines sterbenden Planeten.
    Jonathan hörte zu. Er hielt sanft meine Hand. Ich weiß nicht, ob man das als Verständnis werten kann.
    Das Pflegeheim roch wie immer nach gekochten Möhren, nach antiseptischen Putzmitteln und dem bitteren Kaffee, den die Frühschicht aufgesetzt und aus Zeitmangel nicht ausgetrunken hatte.Einerseits war es mir zuwider, meinen Vater vorzuführen, als sei er ein wissenschaftliches Exponat und kein ehemaliger Mensch. Andererseits wusste ich: Wenn es eine Chance gab, Jonathan zu zeigen, was ich morgens im Spiegel sah, dann hier. Über den Zerfall der Hirnrinde konnte man endlose Vorträge halten, doch wahres Verständnis riefen nur dieser greisenhafte Mund, dies gelbliche, eingefallene Gesicht hervor. Dunkle Augen, die glänzten wie die eines Gefangenen, der wusste, dass er am nächsten Tag hingerichtet würde – wobei ich mich bemühte, nicht übermäßig zu dramatisieren. Ich glaubte nicht, dass mein Vater noch von seinem Schicksal wusste. Das war immerhin ein Vorteil.
    Wir betraten sein Zimmer. Ich rieb meinem Vater die

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