Das Leben ist groß
Vielleicht konnte er sich auf Elisabetas Bett setzen, das genauso ungemacht wäre wie seins, und sich eine Zigarette mit ihr teilen. Prostituierte mussten vermutlich genauso haushalten wie Schachstudenten. Vielleicht wäre auch ihre Mitbewohnerin Sonja da, und er könnte den beiden von seinem nächtlichen Ausflug erzählen. »Café Saigon«, würde er lässig einfließen lassen. »Mal davon gehört?« Wenn ja, wunderbar, und wenn sie es nicht kannten, umso besser. »Wie kannst du ganz ohne Schlaf so gut sein?«, würden sie ihn besorgt fragen. Und er würde einen tiefen Zug von seiner Zigarette nehmen, ohne zu husten, und würde ihnen zublinzeln und sagen: »Übungssache.«
Sein Bett wurde ein wenig wärmer, und er zog seine Hände in die Ärmel und rieb sie aneinander. Wenn er es sich recht überlegte, sollte er vielleicht doch nicht gehen. Er dachte an Mischa, der sich in der eiskalten Zelle einer Psichuschka hin und her wälzte, weil er einem Fremden einen Gefallen getan hatte. Er dachte an den Beinamputierten und seine Behauptung, dass alle, dass jeder Einzelne ein Arschloch war. Möglicherweise hatte er recht. Alexander drehte sich auf die Seite, rieb seine Füße aneinander und versuchte sichan alles zu erinnern, was er noch von seinem Elternhaus in Ocha wusste. Er stellte sich seine kleinen Schwestern vor, die ihm so ähnlich sahen und die schneller als der Blitz zwischen Glück und Verachtung hin und her wechselten. Er dachte an seine Mutter, die nächtelang aufblieb, undurchschaubare Gedanken wälzte und unerträglich traurige Lieder sang. Sicher war es besser, nicht in Elisabetas Zimmer zu gehen. Alexanders Stärke waren seine Erinnerungen, waren Gedächtnis und Vorstellungskraft. Und ob diese Fähigkeiten für ein Leben in der Sowjetunion nützlich waren oder nicht, sie hatten jedenfalls den Vorzug, dass man sie in aller Stille ausüben konnte, in einem kleinen gemieteten Zimmer, ganz für sich allein.
KAPITEL 4
Irina
Cambridge, Massachusetts, 2006
Eines Tages im Frühjahr, als ich mit Lars Schach spielte, blieb der Mann, der später Jonathan war, stehen und sah uns zu. Ich weiß nicht, warum er das tat; seine eigenen Antworten auf diese Frage habe ich nie so recht glauben können. Lars und ich müssen ein sehr ungleiches Paar abgegeben haben – ein verschlagener Alter und eine beunruhigend blasse junge Frau, die einander über eine phantasielose Konstellation hinweg niederzustarren versuchten –, und meine erste Vermutung war, dass der Mann mit sich selbst gewettet hatte, wer gewinnen würde. Ich ließ meinen Läufer quer über das Brett segeln, bis er Plastikauge in Plastikauge Lars’ Springer gegenüberstand. Der Springer war gedeckt, also brachte der Zug mich nicht wirklich weiter. Doch aus unerfindlichen Gründen hatte ich das Bedürfnis, etwas besonders Dramatisches zu tun.
»Jemand beobachtet uns«, sagte Lars laut.
Der Mann hüstelte. »Ich hoffe, es stört Sie nicht.«
»Nein«, sagte Lars. »Aber hören Sie mit dem Husten auf.«
Ich schätze, diese erste Begegnung hat für mich im Nachhinein mythische Proportionen angenommen. Da ich ebenso areligiös wie krankhaft selbstbezogen bin, müssen wohl meine Erinnerungen dafür herhalten, dem Ganzen einen Sinn abzugewinnen. Der Mann blieb. Damals war es mir vermutlich eher unangenehm, wie er uns beobachtete, während sein Schal im Wind flatterte und seine Augen vor Kälte feucht wurden. Er war einigermaßen attraktiv, aber nicht auffallend schön. Und doch frage ich mich, ob ich nicht schon damals etwas ganz Besonderes, etwas eigenartig Passendes in seinem Gesicht gesehen habe – in seinem lockigen Haar, seinem leicht vorspringenden Kinn, den kohlschwarzen Stoppeln auf seinen Wangen, in seinem müden und zugleich beängstigend intelligenten Blick. Es könnte sein, dass mir sein Gesicht vertraut vorkam, und es könnte genauso gut sein, dass ich dieses Gefühl nur rückblickend hineininterpretiere. Ich vermied es, ihn anzusehen.
»Kann ich gegen den Gewinner spielen?«, fragte der Mann.
»Macht einen Dollar«, sagte Lars.
»Und wie viel nehmen Sie?«, fragte er mich.
»Ich nehme kein Geld«, sagte ich und sah ihn immer noch nicht an. »Und ich gewinne auch nicht.«
»Allerdings nicht«, schniefte Lars. »Wenn Sie gegen den Gewinner spielen wollen, spielen Sie gegen mich.«
»Ich lasse mich überraschen.«
Er sah uns zu. Man hört immer wieder von Blicken, die man angeblich spüren kann, und ich habe nie daran geglaubt, bis ich mich
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