Das Leben ist groß
Wahrheiten anerkannt sind.«
»Er hat diffamierende Behauptungen über die Sowjetunion und den Kommunismus verbreitet«, sagte Nikolai.
»Ach ja?«
»Er hat eine Petition unterzeichnet«, sagte Iwan, »und sie haben ihn in eine Psichuschka gesteckt. Wir wissen nicht, wann er wieder rauskommt.« Er rieb sich mit flatternden Händen die dunkel behaarten Schläfen.
»Er ist ein Idiot«, sagte Nikolai. Wenn er sich ins Licht drehte, wurden die Narben auf seinem Gesicht zu lilafarbenen Fingerabdrücken.
»Die Sache ist die«, sagte Iwan, »dass ich fürchte – und ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel –, du könntest ihm ein bisschen zu ähnlich sein. Halte dich nicht an das, was die Leute dir sagen, es sei denn, sie sind von den zuständigen Stellen. Halte dich an die Verkehrsregeln.«
»Ich habe kein Auto«, sagte Alexander.
»Tu niemandem einen Gefallen. Ziehe nie voreilige Schlüsse. Du warst doch im Komsomol?«
Alexander schüttelte den Kopf. »In Ocha muss man das nicht unbedingt. Es ist so ein kleiner Ort. Sie etwa?«
»Alle waren dabei«, sagte Iwan schroff. Er hob die Brauen und presste die Lippen aufeinander. »Alle anständigen jungen Leute.«
»Verstehe«, sagte Alexander. Sein Kopf wurde allmählich wieder klarer, und die Deckenlampen pulsierten wie blassgrüne Himmelskörper gegen seine Augenlider. Nikolai und Iwan unterhielten sich ein wenig über Musik, dann über Frauen und dann über die Invasion Afghanistans und wie lange die sowjetischen Streitkräfte brauchen würden, um seine staubige, unkultivierte Landschaft und Bevölkerung zu unterwerfen. Alexander hatte das Thema kaum mitverfolgt, bis auf ein paar Überschriften, die ihm beim Blättern auf dem Weg zum nächsten Schachartikel ins Auge gesprungen waren – von »Interventionspflicht« war da die Rede und von der »Einladung unseres sozialistischen Brudervolks in Afghanistan« –, und hörte nur mit halbem Ohr hin. Er dachte an Mischa, der Pech gehabt hatte und in einem psychiatrischen Gefängnis gelandet war. Und an die unzähligen unverständlichen Formulare, die er für die Übersiedlung nach Leningrad gebraucht hatte, die er unterschrieben hatte, ohne sie überhaupt zu lesen. Er stand auf, um zur Toilette zu gehen.
Neben der Tür zu den Toiletten redete der Mann im Rollstuhl noch immer lebhaft mit sich selbst. »Arschlöcher«, schimpfte er und fuchtelte mit seiner Zigarette. Sein Kinn ruhte auf seiner Brust, als wollte er seinem Bauch ein Geheimnis erzählen. Die Beine des Mannes, oder was davon übrig war, wirkten verschrumpelt,und sein Gesicht war eingefallen. Als er den Kopf hob, erkannte Alexander, dass ihm Zähne fehlten, was nicht ungewöhnlich war, jedoch den beunruhigend ausgehöhlten Gesamteindruck verstärkte. Der Mann sah aus, als hätte man ihn in seine Einzelteile zerlegt und falsch wieder zusammengesetzt. »Verdammte Arschlöcher«, sagte der Mann noch einmal und sah Alexander direkt in die Augen. »Trau ihnen bloß nicht.« Das grünliche Licht umgab ihn mit einem radioaktiven Schimmer.
»Wem? Wen meinen Sie?« Alexander wollte es wirklich wissen, stellte er fest.
Der Mann bedeutete Alexander mit einem gekrümmten Zeigefinger näherzukommen. Alexander beugte sich zu ihm hinab; der Mann roch nach Rost und Alkohol und etwas, das Alexander traurig machte, ohne dass er hätte sagen können, warum.
»Wer sind die Arschlöcher?«, fragte Alexander noch einmal.
»Alle sind sie Arschlöcher«, flüsterte der Mann und brach in ein beängstigendes, halb ersticktes Lachen aus. Er vollführte eine weit ausladende Geste, die alle Menschen im Raum mit einbezog und Asche auf Alexanders Schuhe verstreute. »Jeder Einzelne!«
Als Alexander Stunden später auf die vereisten Straßen hinaustaumelte, war am östlichen Himmel ein aschfahler Streifen aufgetaucht. Das Licht sah aus, als sei es durch ein schmutziges Tuch gegossen worden, und die Schneeklumpen wurden flaumig wie Schimmelflecken. Ein zerfledderter Handzettel mit einer Warnung gegen den Teufel Alkohol klebte unter Alexanders Schuh, und er schüttelte ihn ab. In der Luft hing der Benzingeruch im Leerlauf wartender Schigulis. Leningrad rüstete sich für einen neuen Tag. In den dunklen Mauernischen versammelten sich die Straßenhändler: braun gekleidete Männer mit Gemüsekarren voller grauer Rüben und Kohlköpfe, denen die aufgehende Sonne allmählich Farbe verlieh. Eine frierende Frau mit Fischen, deren Bäuche zungenfarben glänzten. Bemützte Jungen kauerten an
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