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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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welche. Manchmal wünschte er, die Verwalterin oder einer der anderen Mieter würde in sein feuchtkaltes, flackernd erleuchtetes Zimmer platzen und fragen, was er triebe. Der Winter war so einsam gewesen, dass ihm jede Störung willkommen gewesen wäre.
    »Wo ist der andere?«, fragte Alexander. Er erinnerte sich noch an den Dritten in dem Trio, der am verhärmtesten ausgesehen und erzählt hatte, sie befassten sich mit wirklicher Geschichte.
    »Mischa.« Iwan zögerte und tippte sich mit den langen Fingern ans Kinn. »Du hast ein verdammt gutes Gedächtnis, wenn du dich an den armen Mischa erinnerst.«
    »Danke«, sagte Alexander. Er hatte wirklich ein verdammt gutes Gedächtnis, auch wenn Andronow betonte, dass seine größte Stärke beim Schach darin lag, alles Gelernte zu vergessen und etwas ganz Neues zu versuchen.
    Nikolai kehrte mit einem Tablett voller kristallin schimmernder Stoli-Gläser zurück. Alexander dankte ihm, und Iwan schwieg. Iwan hob sein Glas und stieß mit Nikolai an. »Auf Mischa«, sagte er.
    Nikolai trank, ohne den Trinkspruch zu erwidern. Alexander nahm eins der Wodkagläser und betrachtete es. Bläulich schillernde Schlieren durchzogen die Flüssigkeit.
    »Was ist?«, fragte Iwan. »Kennt man das bei euch im Osten nicht? Das trinkt man.«
    »Schon klar.« Es zog ihm den Mund zusammen; Alexander presste die Lippen aufeinander und schluckte. Iwan lachte.
    »Was macht ihr da drüben den ganzen Tag?«, fragte Nikolai.
    »Es ist nicht so kalt wie hier. Und es gibt genug zu tun.« Alexander kippte den Rest seines Wodka hinunter, um zu beweisen, dass er es konnte, und Iwan reichte ihm den nächsten.
    »Unser Freund Mischa«, sagte Iwan, »hat sich leider ein bisschen Ärger eingehandelt.«
    »Das tut mir leid«, sagte Alexander. Die Sehnen an seinem Hals begannen sich zu entspannen, und er bekam Lust, sich umzusehen. Von der hohen, höhlenartigen Decke baumelten absinthfarbene Glühlampen. Oberhalb der Bar blitzten die silbrigen Fischbäuche der Flaschen. Der Mann im Rollstuhl fluchte noch immer vor sich hin und stach mit seiner Zigarette Löcher in die Luft.
    »Wer ist das?«, fragte Alexander. »Mit wem redet er?«
    »Du bist komisch«, sagte Iwan. »Du hast komische Prioritäten.«
    »Alkohol bekommt mir nicht«, sagte Alexander. Er bereute allmählich, dass er gekommen war. »Er stört mich beim Denken und ist schlecht für mein Gedächtnis. Im Schach ist das Erinnerungsvermögen das Wichtigste. Und die Vorstellungskraft.«
    »Erinnerungen und Vorstellungen sind praktisch illegal«, sagte Iwan. »Sollen wir dir lieber ein Bier bestellen?«
    »Das Bier hier ist pures Wasser«, sagte Nikolai. »Beleidige ihn nicht. Bier ist was für Kinder.«
    Sie reichten Alexander noch ein Glas Wodka, und er rollte es zwischen den Fingern hin und her. Es lag sauber und glatt in der Hand, und solange es voll war, hatte es fast dasselbe Gewicht wie der König eines guten Sets. Nikolai zog eine Zigarre aus seiner Tasche hervor und benutzte ein Streichholzheftchen des Café Saigon, um sie anzustecken. Süßliche Rauchschwaden kräuselten sich empor. Alexander fühlte sich, als sei sein Kopf an einem Faden befestigt und wippte im Takt mit seinen Gesten oberhalb des Körpers hin und her wie von einem unsichtbaren Puppenspieler bewegt.
    »Was ist mit Mischa passiert?«, fragte Alexander. Das Sprechenfiel ihm schwer. Ein unsinniges Gefühl der Gelassenheit durchströmte ihn, eine angenehme Erschlaffung, in der nur Weniges noch denkbar schien: in tiefen Zügen den zimtenen Zigarrenduft zu atmen oder die grünen Leuchtbojen auf dem schwarzen Meer der Saaldecke schaukeln zu sehen.
    »Tja«, sagte Iwan. »Mischa hat Dummheiten gemacht, Alexander Kimowitsch. Ich werde es dir erzählen, damit du nicht dieselben Dummheiten machst.«
    »Okay«, antwortete Alexander dümmlich. Die Zunge lag ihm schwer im Mund.
    »Wenn ich ehrlich sein soll, machst du nämlich nicht den allerhellsten Eindruck«, sagte Iwan.
    »Nein«, sagte Nikolai. »Allerdings nicht.«
    »Ich weiß, dass du ein brillanter Schachspieler bist«, sagte Iwan. »So steht es in der Zeitung. Und ich glaube alles, was in der Zeitung steht.«
    »Alles«, sagte Nikolai.
    »Aber man kann in einer Sache gut und in einer anderen schlecht sein«, fuhr Iwan fort.
    »Oder in einer Sache gut und in allen anderen schlecht«, sagte Nikolai.
    »Mischa hat Dummheiten gemacht«, sagte Iwan. »Er hat Unwahrheiten in Umlauf gebracht. Er hat Dinge gesagt, die nicht offiziell als

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