Das Leben ist groß
Ausbeute davon, und Alexander erkannte einige der Sachen wieder – ein Hemd, ein paar Briefe, ein Buch, ein schmuddeliges Bettlaken. Er hätte das Laken wechseln sollen, dachte er. Andererseits hatte er nicht damit gerechnet, Gesellschaft zu bekommen.
Peter Pawlowitsch sah ihn an und wechselte den Tonfall. »Also. Demnächst ist ein Turnier in Moskau, habe ich recht?«
»Ja.«
»Und Sie möchten weiterhin teilnehmen?«
»Ja.«
»Natürlich möchten Sie. Kluger Junge. Schließlich sind Sie ein Schachwunderkind. Eine politische Leuchte sind Sie nicht. Ich denke, darauf können wir uns einigen. Der Kreml ist ausgesprochen großzügig und sehr beeindruckt von Ihren Fähigkeiten, und wenn wir zwei uns einig werden, ist man bereit, trotz allem über ihre früheren Fehltritte hinwegzusehen. Vielleicht finden wir ja zu einer Übereinkunft.«
Peter Pawlowitsch sah Alexander besorgt an, wie ein Arzt, der hofft, dass sein minderjähriger Patient eine bittere, aber lebensrettende Pille schlucken wird.
»Die städtischen Meisterschaften sind Kinderkram, meinen Sie nicht? Für einen Spieler wie Sie? Sie sollten überregional spielen. International, wenn Sie mich fragen. Sie wollen weiterhin für dieSowjetunion spielen, und wir wollen, dass Sie weiterhin für die Sowjetunion spielen.«
Alexander wurde bewusst, dass Pawlowitsch von Angebot und Nachfrage sprach.
»Aber es liegt ganz bei Ihnen – ob Sie an Ihrer Einstellung arbeiten. Ob Sie ideologisch lernfähig sind.«
Und vielleicht war Alexander das. Vielleicht. Die Frau, die er liebte, hatte beschlossen, einen Parteifunktionär zu heiraten; der Mann, den er am meisten bewunderte, war tot; die einzigen anderen Menschen, denen er vertraut hatte, waren ein Irrer und ein Verräter. Es gab immer weniger Alternativen für ihn. Wer würde es ihm vorhalten? Wer war überhaupt noch übrig, der es ihm vorhalten konnte?
»Und wenn nicht?«, fragte Alexander. Vielleicht wusste er schon, dass die Frage reine Effekthascherei war.
»Wenn nicht, war es das mit dem Schachspielen. Und vielleicht mit ein paar anderen Dingen. Wer weiß? Aber Schach würden Sie nicht mehr spielen, so viel ist sicher. Man hat Ihnen viel Toleranz und Geduld entgegengebracht. Aber ich denke, darüber müssen wir uns nicht weiter unterhalten. Ich denke, Sie wissen schon, was Sie zu tun haben.«
Vielleicht hatte Peter Pawlowitsch recht. Vielleicht würde Alexander in sein Zimmer gehen, auf die braunen Flecken am Boden starren und es sich überlegen. Er hatte versucht, in Leningrad ein ehrbares Leben zu führen. Er hatte versagt. Vor dem Fenster würde er die Schneeflocken im Laternenlicht verglühen sehen. Auf dem Bett hätte der KGB sein Schachspiel stehen lassen. Sie hätten gewusst, dass er es mitnehmen würde und dass es das Einzige war, was er mitnehmen würde. Sie hätten gewusst, was er tun würde. Wenn er ginge, würde er an der Tür Nummer neun vorbeigehen, ohne hinzusehen.
»Sie können jetzt gehen«, sagte Peter Pawlowitsch gutgelaunt. »Sie wollen doch sicher packen.«Die neue Wohnung hatte tadellose Wasserleitungen, einen gerahmten Spiegel und ein zweites Schlafzimmer (»für Gäste«, hatte Peter Pawlowitsch mit großer Geste gesagt). Es gab ein Wohnzimmer mit Kamin und mit eingebauten Bücherregalen voller offiziell anerkannter unlesbarer Lektüre. Im Kühlschrank lagerten frisches Fleisch und importierter Wein. Eine Schüssel auf dem Tresen war bis über den Rand mit tropischen Früchten gefüllt, darunter eine Banane, so gelb und halbrund wie eine Mondsichel. Alexander hatte noch nie eine Banane gegessen, nur eine Orange, als Kind in Ocha, als ein Güterzug mit Waren für die Parteielite entgleist war. Vor seinen Fenstern blühten in jenem Frühjahr Schachblumen und die prallen, leuchtenden Herzen der Wolfsmilchpflanzen.
Er hatte nicht einmal geahnt, wie schmutzig er war, bis er eine halbe Stunde mit Unmengen Seife unter einer brühend heißen Dusche verbrachte. Er dachte an die ewig kratzenden Dreckkrümel in seinem Bett in der Kommunalka zurück und begriff beschämt, dass er sie selbst dort hinterlassen hatte. Er trank armenischen Cognac. Er rauchte ohne jeden Anlass kubanische Zigarren. Dass er Elisabeta und Iwan verloren hatte, hatte ihn rachsüchtig gemacht. Er fand, er hätte alles verdient, was er an sich raffen konnte. Er wälzte sich nachts in seinem neuen Bettzeug herum, das eine ganz andere Gattung zu sein schien als das, was er von früher her kannte. Dass Decken seidenweich
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