Das Leben ist groß
mal.«
Alexander sah hoch. In seinem Fenster zeichnete sich die verzerrte Silhouette eines Mannes ab – ein Arm, ein Rücken, ein deformierter Kopf –, der sehr methodisch nach etwas zu suchen schien. Alexander stellte sich vor, wie die Verwalterin die Hände rang und sich auf die Lippe biss und sich alles, alles ins Gedächtnisrief, was sie gegen ihn vorbringen konnte. Er war zu unmöglichen Zeiten gekommen und gegangen, würde sie sagen. Er hatte zweifelhaften Umgang gepflegt. Er hatte mit einer Nutte angebandelt und sich nicht einmal die Mühe gemacht, diskret zu sein. Alexander wusste, dass es der Verwalterin jetzt leidtat, ihn nicht längst vor die Tür gesetzt zu haben.
»Das war ein hübscher kleiner Auftritt in Moskau«, sagte Peter Pawlowitsch. In dem kalten Licht sah er hohlwangig und gelbsüchtig aus, und seine Nase lief. Insgesamt wirkte er nicht wie jemand, der eine ganze Existenz zerstören könnte.
Alexander sah sich nach allen Seiten um.
»Erwarten Sie jemanden?«, fragte Peter Pawlowitsch.
»Wo ist Nikolai?«
»Woher soll ich das wissen? Ich bin doch nicht sein Kindermädchen.« Pawlowitsch zog mit Nachdruck die Nase hoch. »Das mit Ihren Freunden tut mir leid.«
»Sicher.«
»Das war bedauerlich. Zwei so junge Männer. Äußerst bedauerlich.«
»Für wen bedauerlich? Ich meine, wer bedauert das genau?«
Pawlowitsch kniff sich in die Nase und sah Alexander wohlwollend an. Schnee hatte sich in seinen Augenbrauen verfangen, sie sahen wie die haarigen Beine einer Albino-Tarantel aus. »So eine Tragödie«, sagte er, »kann jeder nur bedauern.«
Alexander wandte sich von ihm ab und stapfte auf die Haustür zu. Das Eis unter seinen Füßen gab ein hohles Knirschen von sich.
»Ich würde an Ihrer Stelle nicht hineingehen.«
Alexander drehte sich um. »Ach, nein?«
»Sie sind noch nicht fertig.«
Alexander stellte sich vor, wie sie seine Unterhosen und Schachsets, seine Bücher und seine wenigen Briefe durchwühlten, die dürftige Ausbeute seiner gesamten einsamen Existenz. Er fragte sich, wie viel sie tatsächlich begriffen, wenn sie sein Zimmer nachverbotenen Veröffentlichungen durchforsteten; vielleicht vermaßen und fotografierten und archivierten sie gerade das ganze Durcheinander von Einsamkeit, Sehnsucht und Enttäuschung – seinen einzigen persönlichen Besitz.
»Da oben ist nichts.«
»Nicht? Na, mag sein.« In Peter Pawlowitschs Atemwegen war ein sattes Gurgeln zu hören. »Verzeihen Sie. Ich habe Polypen. Ziemlich unangenehm, so was.«
Das Gurgeln machte Alexander Mut. »Seit wann arbeitet Nikolai schon für Sie?«
»Werden Sie nicht drastisch. Wenn Sie so weitermachen, werden Sie nie die Karriere haben, die Sie verdient hätten.«
»Seit wann hatten Sie vor, Iwan umzubringen?«
»Er ist bei einem Unfall gestorben.«
»Klar.«
»Es war ein Unfall. Und außerdem ist das nicht mein Ressort. Das wissen Sie hoffentlich. Ich halte mich strikt an Sport und Propaganda.«
Alexander schwieg und starrte stumpf vor sich hin – auf die bleigraue Gebäudeflanke, die gefrorene Wäsche an der Leine im Hof. Licht sickerte von oben auf sie herab.
»Ich muss zugeben«, sagte Peter Pawlowitsch, »dass es mich beeindruckt, wie lange Sie es in diesem Drecksloch ausgehalten haben. Und die Kollegen auch. Ich war nicht gerade davon ausgegangen, einen Palast vorzufinden, aber nachdem Sie so darauf bestanden haben, hierzubleiben, dachte ich, es sei zumindest ein bisschen erträglicher.«
Alexander sah wieder zu seinem Fenster auf. Er konnte noch immer Schemen erkennen, die sich im schwachen Gegenlicht der Glühlampe rätselhaft hin und her bewegten.
»Aber das hier«, Peter Pawlowitsch deutete auf das Gebäude, »das ist grauenhaft. Sie müssen Ihr kleines Projekt wirklich ernstgenommen haben, um es hier auszuhalten. Wer weiß, mit wem Sie da unter einem Dach gelebt haben? Mit Huren, möchte ich wetten.«Alexander wurde mit einem Schlag in die Magengrube klar, dass Elisabeta in seiner Akte stand. »Sie müssen an diesen Blödsinn wahrhaftig geglaubt haben.«
»Habe ich.«
Peter Pawlowitsch sah ihn mit einem beinahe zärtlichen Ausdruck an, den Alexander unerträglich fand. Er schniefte triumphierend. »Tja, bestimmt haben Sie einer Menge Menschen den Kopf verdreht.«
In dem Moment kamen die Männer die Treppe herunter. Es waren zwei, einer mit der Muskulatur eines Bärenmarders und einer mit einem Gesicht, das aussah wie abgekocht. Ohne Alexander anzusehen, trugen sie ihre magere
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